Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Ekkehard Stärk, Kampanien als geistige Landschaft. Interpretationen zum antiken Bild des Golfs von Neapel. München: Beck 1995. 257 S. (Zetemata. 93.) ISBN 3406 38351 3
--, Antrum Sibyllae Cumanae und Campi Elysii. Zwei vergilische Lokale in den phlegräischen Feldern. Stuttgart-Leipzig: Hirzel (in Komm.) 1998. 49 S. 11 Abb. (Sitzungsber. d. Sächs. Akademie d. Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Kl. 75/3.) ISBN 3 7776 0921 8 ISSN 0080 5297

Die Freiburger Habilitationsschrift führt in die sehr reizvolle Geschichte der literarischen Interpretation einer der geographisch, historisch und archäologisch bemerkenswertesten Landschaften Italiens. Die Einleitung, 'Modernes und antikes Kampanien', zeigt an Hand von Originalzitaten die zwischen verehrender Bewunderung und überdrüssiger Ablehnung wechselnde Haltung neuzeitlicher Reisender ab Mitte des 15. Jh. gegenüber dieser Kulturlandschaft und ihrer literarischen Tradition, die stets dazu neigte, gelöst von den konkreten Gegebenheiten ein gewisses Eigenleben zu führen. Im Dialog zwischen Realität und Literatur führe letztere zuweilen ein Selbstgespräch (32), ähnliche Phänomene seien auch für die Antike aufzuspüren.
Die Vorstellung konkreter Lokalisierung aller Unterweltorte des 'Rus Maronianum' des sechsten Aeneisbuches zwischen Cumae, Misenum und dem Averner See habe nach jahrhundertelanger Diskussion verschiedenster "Teilprojektionen der vergilischen Unterwelt an die kampanische Oberwelt" (38) der (auch E. Norden noch nicht recht zugänglichen) Einsicht zu weichen, Vergil gebe kein Abbild der phlegräischen Felder, sondern einer literarischen Odysseelandschaft - in der erstmals bei Ephoros kenntlichen Übertragung des homerischen Schattenreiches der Kimmerier, ergänzt durch die epirotische Thesprotis mit ihrem Totenorakel am Zusammenfluß von Kokytos und Acheron, nach Kampanien -, die, schon vor der Aeneis von der Aeneassage besetzt, erst mit dieser durch eine aeneische, somit vergilische Landschaft abgelöst worden sei (52ff.). Deren (ausführlich interpretierte) literarische Rezeption trage "zum größeren Teil ein ausgesprochen touristisches Gepräge" (62), so bei Ovid, Petron, Statius und Späteren, vor allem bei Silius Italicus, dessen "Epos nicht ein autarkes Kunstwerk ist, sondern seine Wirkung im Dialog mit dem Vorbild entfaltet" (93; vgl., als nur ein charakteristisches Beispiel, etwa die Doppelung und Umdeutung der vergilischen Sibylle, 76ff.).
Der zentrale Abschnitt, 'Crater ille delicatus', läßt zunächst 'Kampanien als geistigen Zustand' erstehen: die Haltung der Gesellschaft und die teils topischen, teils fein differenzierten Intentionen der Schriftsteller ab Cicero, der "die moralische Fragwürdigkeit der Landschaft als etwas Allbekanntes und Anzuspielendes, Baiae als polemische Chiffre und Vorwurf bereits voraussetzt" (105), über Seneca, die sich von Kampanien als Symbol julisch-claudischer Lebensart abwendenden Flavier, über Plinius, Tacitus, Sueton, Statius, die "Erschöpfung der Chiffre" ab Martial und Hadrian (99. 143ff.), bis zur literarischen Renaissance im 4. Jh. mit der "Restauration der Chiffre" in Symmachus' kampanischen Briefen, dem "die geliebte Landschaft gerade bei seinen Aufenthalten unumkehrbar zum Mythos wurde" (99. 156ff.). 'Ortsübertragung und Landschaftsvergleich' behandelt, ausgehend von Cassiodors (finanzpolitisch motiviertem) Vergleich Istriens mit Kampanien, auch die von C. Pellegrino 1651 angeregte Frage der Entwicklung appellativischer Verwendung von Campania (180ff.), die St. ablehnt, und metaphorischer von Baiae, der er zustimmt, an Hand mehrerer Beispiele, vor allem aus Sidonius Apollinaris und Ausonius. 'Bäderlust und Konzentration auf die Küste' spürt schließlich der Vorstellung der demoralisierenden Wirkung der kampanischen Bäder nach und der Verlegung historischer Ereignisse aus dem uninteressant gewordenen Hinterland an die Küste, vor allem wieder bei Silius: dessen Hannibal, eher als schaulustiger Tourist denn als Feldherr an die kampanische Küste gekommen (vgl. 69ff.), sei mit seinem Heer erst dort moralisch und militärisch zerrüttet worden, Silius' geographisch-chronologische Umarbeitung der Darstellung des Livius erst im Hinblick darauf nicht mehr als "heillose Unordnung", sondern als "ins Große gehende Planung" verständlich (206f.).
Abschließend steht 'Et in Campania ego' für den 'Tod in Kampanien' als literarisches Thema, ausgehend von Plinius' berühmter Schilderung des Todes seines Onkels mit der Umkehr eines bis dahin vielfach epikureisch, nun aber von einer unerwarteten Katastrophe umso denkwürdiger gestalteten Todes, einer Katastrophe, die dem Reiz der Landschaft durch das bedrohliche, aber auch befruchtende vulkanische Phänomen des Vesuv eine weitere, wenn auch makabre Facette hinzufügen konnte.
Alles in allem somit ein sehr reichhaltiges Werk, das sowohl zur Geschichte von Landschaftsdeutung und Landschaftssymbolik als auch zum rechten Verständnis kaiserzeitlich-römischer Dichtung Wesentliches beiträgt, darüber hinaus für jeden Kenner und Liebhaber der behandelten Region höchst anregend zu lesen ist, auch durch seine gelegentlich recht köstlichen Formulierungen. Eine etwas sinnfälligere Gliederung der sehr langen Abschnitte (man ist versucht zu sagen 'Bücher') hätte diese Lektüre allerdings um einiges erleichtert. - Den Band beschließen Literaturverzeichnis und Register; dem beigegebenen (kaum lesbaren) Faksimile einer französisch beschrifteten historischen Karte des Golfs von Pozzuoli (258f.) fehlt leider eine Beischrift. --
Eine willkommene Ergänzung dazu bildet der Faszikel über das - nicht zuletzt durch die Interessen lokaler 'Führer' ins allzu Konkrete ausgeuferte - Nachleben 'zweier vergilischer Lokale in den Phlegräischen Feldern' (wieder mit vielen Originalzitaten): Seit der Spätantike habe man drei Plätze als 'Grotte der Sibylle' bezeichnet, den Tunnel zwischen Averner und Lucriner See, die ostwestlich verlaufende 'Crypta Romana' unter dem Burgberg von Cumae und die (von Maiuri 1932 neu entdeckte) nordsüdliche Ganganlage an dessen Westflanke. Die echte alte Orakelgrotte der Zeit vor 421 v. Chr. sei wohl kaum mehr zu identifizieren, schon gar nicht, was Vergil gesehen und beschrieben habe: er war kein Topograph, sondern folgte der (oben genannten) literarischen Tradition. Die 'Elysischen Gefilde' seien vor der Wende zum 17. Jh. einmal auf den Landstrich zwischen Pozzuoli und dem Meer vor Cumae übertragen, dann alle Gewässer den Unterweltströmen zugeordnet worden, unterstützt von allerhand Ruinen und dem alten Namen 'mare morto' für das innere Hafenbecken von Misenum (genannt schon 1141); bald habe man jedoch über den 'elysischen' Charakter der Gegend, dann auch über konkrete Lokalisierungen gestritten, bis F. L. Graf Stolberg im frühen 19. Jh. zur Einsicht kam, Vergil habe durchaus nicht die konkrete kampanische Landschaft besungen. Den Faszikel beschließen die (oben erwähnte, nun zugeordnete) Karte von de Saint-Non, Paris 1782, und weitere Skizzen und Abbildungen aus 1697, 1718 und (größtenteils) 1769.
Klaus Zelzer
 

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