Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Sylvia Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser von Literatur im 4. Jahrhundert v. Chr. Tübingen: Gunter Narr 1994. 264 S. (ScriptOralia. 63.) ISBN 3-8233-4278-0

Diesem lesenswerten Buch liegt eine von Wolfgang Kullmann betreute Dissertation zugrunde, die einen Teilbereich des Forschungsprojektes "Übergang und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit" abdeckt.
Isokrates und Platon fallen, wie U. betont, in jene Epoche, in der sich (auch aufgrund des steigenden Buchhandels) die Rezeptionshaltung grundsätzlich ändert: Neben der Rezeption nur durch den Hörer tritt um die Wende zum 4. Jh. (insbesondere bei Prosaschriften) immer mehr das Lesepublikum; beide Autoren stehen also an der Schwelle zwischen mündlichem Vortrag und schriftlicher Publizistik. Der größere Teil des gut gegliederten Buches ist Isokrates gewidmet (13ff.), der bekanntlich durch seine Unfähigkeit, öffentlich zu sprechen, von vornherein auf die Vermittlung durch die Schrift angewiesen war. Zuerst versucht U., die vieldiskutierte Gruppierung seiner Reden mittels des Kriteriums der Anredestrukturen voranzutreiben (20ff.): Sie erkennt einen signifikanten Unterschied zwischen tatsächlich gehaltenen Reden (Gerichtsreden) und solchen, die auf Fiktion beruhen (z. B. Antidosis), mit einem Überwiegen von direkter Anrede bei den einen und indirekten Kommunikationsstrukturen (Einbeziehung des Adressaten durch die 1. P. Plur.; indirekte Suggestionen durch rhetorische Fragen, etc.) bei den anderen. Im Abschnitt zum Hörer (47ff.) zeigt U., daß Isokrates auch in der epideiktischen Rede, die an sich (wie Dichtung, der "Parameter für Mündlichkeit", 50) auf mündliche Rezeption angelegt ist, stets auch pädagogische Ziele ins Auge faßt. Im Zusammenhang damit stehen auch seine Bedenken gegenüber rein mündlicher, passiver Rezeption und seine Aufforderung zu sorgfältigem Nachlesen (für viele Schriften ist vor der Publikation die ausführliche Diskussion im kleinen Kreis bezeugt: 63f. zu Panath. 233; Philippos 22). Die wahre Autorintention vermag man nach Isokrates nur durch mehrmaliges Lesen der λόγοι auszuloten ("der Leser" 74ff.); die Unabhängigkeit von einem Vorleser/Vortragenden, die Möglichkeit zur Unterbrechung der Lektüre und zur besseren Konzentration sind hier von Bedeutung (Isokrates spricht sogar von συνδιατρίβειν, Euag. 76; S. 89); die Mängel der einseitigen Rezeptionsstruktur bei der Rede können nach Isokrates nur durch den kritischen Leser ausgeglichen werden. Das Wichtigste ist aber bei Isokrates nicht die formale Schönheit, die primär auf Überzeugung und Unterhaltung abzielt, sondern die Vermittlung seiner Ideen. Der Stil fiktiver Mündlichkeit, den er (je nach Intention in verschiedener Ausprägung) kultiviert, soll den Dialog mit dem Hörer/Leser herstellen (ein διαλέγεσθαι, 120ff.). Das Problem des doppelten Zielpublikums löst Isokrates nach U. durch die ‚Vernetzung der Anredemodelle, die einen Spannungsbogen erzeugt, der die Rezeption einbinden soll' (132; freies Zitat).
Platons Auffassung von Literaturrezeption muß mangels auktorialer Aussagen aus dem Werk selbst erschlossen werden (141). Angesichts dieser problematischen Voraussetzungen ist der Beitrag der Verf. auch hier beachtenswert. Mit Recht erklärt U. die skeptischen Aussagen des 7. Briefes und des Phaidros zum schriftlichen Text mit Platons Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort insgesamt. Doch beschränkt sich die Thematisierung von Literaturrezeption in seinem Werk auf wenige Stellen und hier insbesondere auf die von Dichtung (zum Ion 144ff.). Gewiß ist der Hörer (150ff.) für Platon der wesentliche Rezipient, wobei ‚Hören' (vgl. dazu die Klassifizierung, 151ff.) insbesondere auch die eine Seite des bei Platon zentralen dialektischen Prozesses (λέγειν καὶ ἀκούειν) abdeckt. Der Leser hingegen (174ff.) erleidet bei Platon Schiffbruch (Sokrates im Phaidon mit den Schriften des Anaxagoras ebenso wie Phaidros mit der Lysiasrede). Klarerweise erkennt auch Platon die Nachteile einer Rezeption bloß durch Hören; doch ist er vom Wert des Lesens keineswegs so überzeugt wie Isokrates (190). Angesichts der schon erwähnten Schriftkritik stellt U. auch die Frage, wie sich die Publikation der platonischen Dialoge damit vereinbaren läßt (207ff.; das Problem der ‚Ungeschriebenen Lehre' bleibt ausgespart). Primäre Rezeption der Dialoge durch einen kleinen Kreis wird, ähnlich wie bei Isokrates, als Vorstufe zur eigentlichen Publikation anzusetzen sein: Nur hier war ja ein Vorlesen mit anschließender Diskussion sinnvoll (vgl. 209ff. zur Inszenierung des Parmenides).
Abschließend noch ein Blick auf ein stilistisches Phänomen: U. deutet die prinzipielle Hiatvermeidung bei Isokrates (71ff.) als Hinweis auf (vornehmlich) akustische Rezeption. Bei Platon erklärt sie die Hiatvermeidung in den Spätschriften (226) nur zum Teil mit dem Einfluß des Isokrates; man könne auch ein Bestreben des Autors annehmen, durch stilistische Brillianz die Rezeption seiner komplexen Gedankengänge angenehmer zu gestalten.
Walter Stockert
 

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