Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Enea Silvo Piccolomini, Euryalus und Lucretia, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Herbert Rädle. Stuttgart: Reclam 1993. 127 S. (Universal-Bibliothek. 8869.) ISBN 3-15-008869-0

Mit der Historia de duobus amantibus des Humanisten und späteren Papstes Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) wurde einer der größten literarischen Erfolge der Renaissance in die zweisprachige Reclamreihe aufgenommen. Die Novelle von Euryalus und Lucretia, einem fränkischen Adeligen im Gefolge Kaiser Sigismunds und seiner (verheirateten) Sieneser Geliebten, wurde noch im 15. Jh. über 70mal gedruckt, sowohl im lateinischen Original als auch in den wichtigsten europäischen Nationalsprachen (dt. von Niklas van Wyle 1462, ed. pr. 1477). Schon vor R. lag aber auch eine moderne dt. Übertragung vor (Max Mell, 1911; mehrere Nachdrucke). An der Neuerscheinung ist besonders die Beigabe des lateinischen Textes zu begrüßen, zugleich aber zu bedauern, daß der Begleitbrief an den Sieneser Juristen Mariano Sozzini um die (moralisierende) Einleitung gekürzt und die Widmungsepistel an den Kanzler Kaspar Schlick ganz weggelassen wurde; beide Texte haben in einer neueren italienischen Taschenbuchausgabe Aufnahme gefunden (Storia di due amanti, traduzione e introduzione di M. L. Doglio - L. Firpo, Milano TEA 1990).

R. folgt der ersten kritischen Ausgabe von Devay (Budapest 1904), wobei E. J. Moralls (Amsterdam 1988) Kritik in der Textgestaltung z. T. berücksichtigt wurde; die Abweichungen von Devay sind jedoch nicht gekennzeichnet. Die Edition der Piccolominibriefe durch Wolkan (Wien 1909) hätte zumindest im Literaturverzeichnis genannt werden sollen. Wie R. mit Modernisierung und Vereinheitlichung der Schreibweise einem breiteren Publikum entgegenzukommen sucht, so ist auch die Übersetzung in erster Linie auf gute Lesbarkeit bedacht, philologischen Maßstäben wird sie nicht immer gerecht: R. neigt zu unnötigen Vereinfachungen (z. B. p. 62,23 über Lucretias faltenlos am Körper anliegendes Gewand ut erant artus sic se ostentabant "und Lucretia war schön"; p. 94,31 iamque coelum noctis obduxerant tenebrae "und es war schon später Abend") und scheut dabei vor engen Anlehnungen an Mell nicht zurück (p. 70,1 redamari putabat solamque feminae pudicitiam obstare sibi rebatur "hoffte er ohne weiteres, auf Lucretia Eindruck zu machen"; p. 5,21 scheint Unsicherheit bezüglich der Konstruktion zu wörtlicher Übernahme geführt zu haben quales (sc. colores) reddunt alba immixta purpureis rosis lilia "wie Rosen im Kranz die weißen Lilien überglühen"). Neben Auslassungen (p. 6,27 redimicula capitis mirifica) finden sich auch frei ausschmückende Erweiterungen (p. 28,7 Lucretias entrüstete Worte an die von Euryalus gesandte Kupplerin Tu me respicias? "Du glotzt mich aus deinen Triefaugen an", wohl in Erinnerung an Ovids Kupplerin am. 1,8,11 lacrimosaque vino / lumina).

Text und Übersetzung werden ergänzt durch eine Kurzbiographie des humanistischen Autors sowie durch weiterführende bibliographische Angaben. Wenig Raum ist der literarischen Interpretation gewidmet (123-126): In den Fußnoten zum Text hat R. zwar aus Devays reichem Similienapparat die wichtigsten antiken Vorbilder angegeben, doch geht er auf Eneas Imitationstechnik nur oberflächlich ein. Besondere Beachtung hätte die Untersuchung von E. Leube (Fortuna in Karthago. Die Aeneas-Dido-Mythe in den romanischen Literaturen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, Studien zum Fortwirken der Antike 1, Heidelberg 1969, 165ff.) verdient: Leube arbeitet die Bedeutung von Boccaccios Fiametta, vor allem aber von Vergils Didobuch heraus und interpretiert die Historia als "novellistisch säkularisierte Paraphrase des vergilischen Themas", die das heroische Vorbild durch Leitzitate evoziert, zugleich aber in ironischem Kontrast "durch Banalität und Lächerlichkeit eines städtischen und häuslichen Alltags relativiert".

Trotz der feststellbaren Mängel, die freilich zum Teil durch die Richtlinien der Reihe bedingt sein mögen, ist zu hoffen, daß R.s zweisprachige Ausgabe der einst so populären Historia wieder breitere Leserkreise gewinnen wird.

Elisabeth Klecker

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