Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Paul Rorem, Pseudo-Dionysius. A Commentary on the Texts and an Introduction to their Influence. New York - Oxford: Oxford University Press 1993. XIII, 267 S. ISBN 0-19-507664-8

Offenkundiges Ziel dieses Buches ist es, in die komplexe spirituelle Gedankenwelt des Corpus Dionysiacum einzuführen, dem Lehrenden ein gutes Arbeitsinstrument in die Hand zu geben und den Studierenden anzuregen, sich - trotz der voraussetzungsreichen Materie und trotz der schwierigen Sprache - mit diesem spätantiken Zeugnis platonisch geprägter, christlicher Erkenntnissuche auseinanderzusetzen. Ein solch einführender Kommentar war zweifellos ein dringendes Desiderat, bedenkt man die enorme Wirkung, die dieses Corpus nicht nur auf das mittelalterliche Geistesleben, sondern auch weit hinein in die Neuzeit ausgeübt hat; selbst dem Mittelalter- und Neuzeit-Historiker sollten die dionysischen Hierarchie-Vorstellungen des Ps.-Areopagiten vertraut sein, waren sie doch der theoretische Unterbau für die monarchische Staatsordnung und besonders für die Autokratie.

R. gelingt sein Vorhaben auf beeindruckende Weise. Sachlich präzise arbeitet er, nach einer kurzen Einleitung (,Orientation'), die wesentlichen Punkte der vier Traktate (,De coelesti hierarchia', ,De ecclesiastica hierarchia', ,De divinis nominibus' und ,De mystica theologia') und der zehn Briefe des Corpus heraus, die er mit den entsprechenden Textpassagen (in englischer Übersetzung) illustriert; er hat also ganz bewußt die Form des ,Zeilenkommentars' vermieden. Er beginnt - didaktisch klug - mit den Briefen, weil, wie er betont, einerseits bereits in ihnen alle Themen, die in den Traktaten tiefergehend abgehandelt werden, angelegt sind und weil sie andererseits, von jeweils relativ geringem Umfang, leicht mehrfach gelesen und durchdacht werden können: "patience and diligent consideration" empfiehlt R. dem Leser gleich zu Beginn (,Reading Method for "An obscure Style"') im Anschluß an Thomas v. Aquin. Die Verständnisschwierigkeiten werden also weder verschwiegen noch herabgespielt; R. kennt sie vielmehr genau (wohl auch durch den Unterricht als Kirchengeschichte-Lehrer) und begegnet ihnen mit einer klar durchdachten Gliederung der Texte - die er am Schluß nochmals zusammenfaßt -, sowie mit knappen, gut faßlichen Interpretationen, in denen auch Forschungsgeschichte und aktueller Forschungsstand (die sonst nur verstreut greifbar sind) berührt werden. Ergänzt wird jeder Teil durch ,Influence in the Middle Ages'; als gewissen Mangel empfindet man das Fehlen des Nachlebens in der Neuzeit.

Gemeinsam mit den 1990 und 1991 erschienenen Ausgaben des griechischen Textes (von B. R. Suchla, G. Heil und A. M. Ritter) zählt R.s ,Commentary' jedenfalls zu den Grundlagen für die Lektüre des Corpus Dionysiacum.

Christine Harrauer
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