Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Christoph Riedweg, Jüdisch-hellenistische Imitation eines orphischen Hieros Logos. Beobachtungen zu OF 245 und 247 (sog. Testament des Orpheus). Tübingen: Narr 1993. 136 S. (Classica Monacensia. 7.) ISBN 3-823-4866-3

Schon im Quattrocento waren die - heute in O. Kerns Sammlung der Orphikerfragmente als Nr. 245-247 aufgeführten - vielfältigen Testimonien zu einem Gedicht des ,Orpheus' heftig umstrittener Gegenstand scharfsinniger Interpretationen. Damals kreiste das Interesse um die vermeintliche Abkehr des Orpheus vom Polytheismus, um seine ,Palinodie', wie Klemens v. Alexandrien bezeugte. Moderne Forscher hingegen haben dieses Gedicht, für das sich seit Kern der Titel "Διαθῆκαι" (nach Ps.-Justin) bzw. ,Testament des Orpheus' eingebürgert hat, immer wieder unter die Lupe genommen mit der Frage, ob wir damit ein echtes Zeugnis der Orphik greifen können, eine Frage, die durch die äußerst komplizierte und (mit der Tübinger Theosophie) bis in die frühbyzantinische Zeit reichende Tradition nicht leicht zu beantworten ist. R. verneint, wie schon der Titel seiner Arbeit zeigt. Um dies plausibel zu machen, deckt er zunächst in akribischer Kleinarbeit die Abhängigkeitslinien der Testimonien auf und beweist, daß wir mit nur zwei Rezensionen (gegen Kerns Annahme, Klemens v. Alexandria habe eine von der ,Urfassung' [fr. 245 K.] und der Überarbeitung durch Aristobulos v. Alexandrien [fr. 247 K.] unabhängige Fassung gekannt; s. Nr. 246 K.) rechnen müssen. R.s sorgfältige Analyse der Testimonien sichert gegenüber Kern nicht nur weitere vier Verse für die ,Urfassung', sondern auch einige Emendationen; schlüssige Verbesserungen gelingen ihm auch für die ,Redactio Aristobuliana'. Diese beiden neu erarbeiteten Texte legt R. sodann vor, jeweils mit kritischem Kommentar und einer Übersetzung, die sich möglichst am Griechischen orientiert, aber gut lesbar ist. Eine Stelle jedoch fällt auf: Meint in Red. Aristob. Vers 25f. (σφαῖρα) ἀμφὶ χθόνα ὡς περιτέλλει / κυκλοτερὴς ἐν ἴσῳ τε κατὰ σφέτερον κνώδακα tatsächlich, daß die Himmelskugel sich um die Erde dreht "rund gedrechselt und am gleichen Ort (ἐν ἴσῳ τε scil. τόπῳ), der eignen Achse gemäß", oder sollte es nicht eher heißen: "... und in harmonischer Bewegung ..." (scil ῥυθμῷ)?

Der umfangreiche Interpretationsteil über orphische Prägung, philosophische Einflüsse und sprachliche Vorbilder ist erschöpfend und läßt kaum eine Frage offen. Auch wenn man R. bei dem einen oder anderen Detail vielleicht nicht unbedingt folgen möchte - so etwa bleibt bei seiner Deutung des μουνοφενής auf Abraham (Red. Aristob. Vers 23f.), trotz der eingehenden Behandlung S. 85ff. (in der das Problematische dieser Deutung keineswegs verschwiegen wird) ein gewisses Unbehagen -, so werden die Linien klar und überzeugend gezeichnet. Von ganz besonderem Interesse sind die aufgezeigten Berührungen der aristobulischen Fassung mit Ps.-Aristot. ,De mundo'; künftige Datierungsversuche dieser Schrift werden wohl kaum an R.s Beobachtungen vorbeigehen können.

Die religiösen Aussagen der ,Urfassung', so betont R. zurecht, konnten sowohl den henotheistisch gesinnten Griechen als auch den hellenistischen Juden ansprechen. Einzig auffällig ist Vers 13, der verdeckt, jedoch unverkennbar, auf eine typisch jüdische Monotheismus-Formel weist; es ist das Verdienst R.s, darauf aufmerksam gemacht zu haben. Ob der (jüdische) Autor ganz bewußt sein Gedicht so gestaltet hat, um für den jüdischen Monotheismus zu werben, wie R. - wohl in Erinnerung an manches Stück aus den Oracula Sibyllina - meint, ist letztlich zwar nicht beweisbar, aber immerhin möglich.

Christine Harrauer

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