Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


David West, Horace Odes I. Carpe Diem. Oxford: Clarendon Press 1995. XIII, 203 S. ISBN 0-19-872161-5 (Paperback)

Die Ausgabe des ersten Buches der Carmina verfolgt den erklärten Zweck, den Dichter, "one of the world’s greatest lyric poets, but not one of the most accessible" (ix) einem breiteren und nicht notwendig philologisch vorgebildeten Publikum zugänglich zu machen. Dem entspricht die ausgesprochen lesbare Form des Buches: auf Text und ihm gegenübergestellte Prosaübersetzung ins Englische folgt eine Interpretation, die frei von philologischem Beiwerk das jeweilige Gedicht verständlich zu machen versucht: Zitate aus lateinischen und griechischen Autoren werden nur sehr eingeschränkt und stets auch in Übersetzung gegeben, Zitate aus der Sekundärliteratur fehlen weitgehend. Natürlich impliziert das Verfahren eine gewisse Beliebigkeit und (für den Nicht-Fachmann, für den das Buch ja auch gedacht ist) Unüberprüfbarkeit, die es für einen weiteren von W. genannten Leserkreis, die "young people who have to study the poems", nur begrenzt nützlich erscheinen lassen, zumal W.s Deutungen zum Teil durchaus eigenwillig sind. Dieser Nachteil, einmal erkannt, scheint aber durch die Vorzüge eines allgemein verständlichen und durchaus amüsanten Zugangs, der auch (freilich auf den englischsprachigen Leser zugeschnittene) Hinweise auf das Weiterwirken der Gedichte bietet, mehr als aufgewogen. Zu knapp gefaßt erscheint die Einleitung, in der nach einigen Bemerkungen zur literarischen Tradition der Carmina und zum Leben des Horaz ein durchaus pragmatischer Überblick über die horazische Metrik gegeben wird, der (wahrscheinlich zu Recht) von der absoluten Kenntnislosigkeit des Rezipienten ausgeht, aber - von Sonderproblemen abgesehen - auch nichts erklärt; selbst in Verbindung mit der metrischen Appendix dürfte es dem Laien kaum möglich sein, mit den wechselnden Metren der Carmina irgend etwas musikalisch Befriedigendes anzufangen. Die Prosaübersetzung ist durchwegs verständlich und lesbar. Trotz gewisser Defizienzen handelt es sich insgesamt um ein sympathisches, anregendes und benutzerfreundliches Buch.

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