Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Uwe Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides, Stuttgart: Steiner Verlag Wiesbaden 1995. 192 S. (Hermes-Einzelschriften. 69.) ISBN 3-515-06601-2

In dieser Dissertation erarbeitet der Verf. anhand einer Auswahl thematisch besonders relevanter Stücke den Vergangenheitsbezug der euripideischen Tragödie, die historischen, politischen und geistigen Umstände, die auf den Autor gewirkt und seine Dramen beeinflußt haben, die Ursache für das bei Euripides gegenüber Aischylos und Sophokles neue, antagonistische Verhältnis zwischen Drama und Mythos und die anachronistische Verknüpfung der mythischen Vergangenheit mit neueren, zeitgenössischen Fragen und Aspekten. Aktuelle Probleme, wie die Bedeutung der Sophistik und ihr folgenreiches Einwirken auf die athenische Gesellschaft, die nach der sophistischen Theorie unmittelbare 'Realitätsmächtigkeit' des Logos sowie die Frage des Machterwerbs und der Machtausübung, die Euripides, vor allem im Vergleich mit der Geschichtsschreibung (Thukydides), als politischen Dichter zeigt, werden in der Hekabe (Willkür der Rhetorik), den Phönizierinnen (Gleichgewicht zwischen egoistischem Machtstreben und Staatsinteresse), im Orest (Verhältnis von Einzel- und Gemeininteresse), in der Iphigenie in Aulis (Meinungsänderung, Infragestellung von Bindung zwischen Rede und Realität, Sinn der Kriegführung), in der Helena, der Iphigenie auf Tauris und dem Ion (menschliche Selbstüberschätzung und Wirken der Tyche) sowie in den Hiketiden und den Herakliden (Utilitarismus contra Moralität im politischen Handeln) unter Heranziehung zeitgenössischer Texte (Thukydides, Gorgias) analysiert und im Hinblick auf ihren Bezug zur mythischen Vergangenheit (Objektivierung) untersucht. Durch die ferne Zeitstufe, so N., erzeuge Euripides in seinen Dramen eine Kontrastwirkung, die die Wahrnehmungsfähigkeit der Athener für ihre eigene Gegenwart und ihre ungelösten Probleme steigere, und bereichere die Gattung der Tragödie durch die ihm bereits von seinen Zeitgenossen als Mangel vorgeworfene 'Entheroisierung' um eine neue Dimension von tragischer Aktualität, die Diskussion um den "Verlust intellektueller und moralischer Substanz" in der Folge von radikaler Aufklärung und fortschreitender Demokratisierung in Verbindung mit politischer Labilität und dem endgültigen Zusammenbruch des durch jahrzehntelangen Krieg zerrütteten Ordnungs- und Wertesystems.

Oliver Pfau
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