Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Valdis Leinieks, The City of Dionysos. A Study of Euripides` Bakchai. Stuttgart - Leipzig: B. G. Teubner 1996. 407 S. (Beiträge zur Altertumskunde. 88.) ISBN 3-519-07637-3

Dies ist ein anregendes Buch; es leidet allerdings an einer zu geringen Organisation, einer zu wenig konkreten Themenstellung, am Fehlen einer Zusammenfassung der verwendeten Literatur, und es leidet vor allem an einer ungewöhnlich nachlässigen, häßlichen äußeren Form. Man nimmt zur Kenntnis, daß Bücher nicht immer lege artis gedruckt werden; aber die Möglichkeiten der verwendeten Textverarbeitungssysteme sollten doch sinnvoll eingesetzt werden.

Es ist dies seit einiger Zeit die erste Auseinandersetzung mit den Bakchen, eigentlich seit dem Buch von H. Oranje, Euripides' Bacchae. The play and its audience, Leiden 1984 (Mnemosyne Suppl. 78.); zu nennen ist lediglich die Wiener Diss. von A. Kyritsi, Dionysos auf dem Theater. Eine Interpretation der "Bakchen" des Euripides, 1993/94, die sich in manchen Punkten mit L. berührt. L. untersucht sprachliche Erscheinungen und orientiert daran Themen, zu Beginn das Thema "A Crisis of Confidence", denn die Bakchen sind auch eine Tragödie über das Versagen der (politischen) Führung einer Polis, und dies hat Euripides auch in den Phoen., im Orestes und in der Iph. Aul. behandelt. Andere Themen sind Tanz, ,dionysische Ausschweifungen', Dionysos-Kulte, Feste des Gottes, Fragen der Form, in der man sich einem Gotte nähert, also Auffassung, Achtung, Wissen, (äußere und innere) Ruhe, Befreiung; all das ist dargeboten in Form von Zitaten (und engl. Übersetzung), Ausblicken auf vergleichbare Texte, Verweisen.

Das Buch ist, wie gesagt, nicht eine durchgehende Interpretation der Bakchen, sondern eine Zusammenstellung von Beobachtungen zu einzelnen Themenbereichen. Einiges kann man weiterdenken. Die Bakchen wurden, trotz des durchaus tragischen Endes, gelegentlich mit dem Satyrspiel in Verbindung gesehen; das Motiv ,Befreiung', ,Freiheit' ist das Gemeinsame, das etwa Alkestis, Iph. Taur., Helena verbindet (man hat diese Stücke ,prosatyric plays' genannt). L. deutet an, daß auch die Bakchen Elemente enthalten, die sie in diese Gruppe stellen (359ff.; vgl. übrigens auch D. Sansone, The Bacchae as satyr-play ? Illinois Class. Studies 3, 1978, 40-45). Ich glaube, man kann noch weitergehen und Gründe anführen, die dafür sprechen, daß die Bakchen im Jahre 405 an vierter Stelle der Tetralogie und also an Stelle eines Satyrspiels standen, wie 33 Jahre zuvor die Alkestis.

Alle Informationen über die postume Aufführung einer Trilogie oder Tetralogie durch einen gleichnamigen Verwandten des Euripides nach dem Jahre 407/406 gehen zurück auf ein verballhornt überliefertes Scholion zu Aristophanes, Frösche 67. Dübner (Z. 44-46) stellt folgenden Text her: τελευτήσαντος Εὐριπίδου τὸν υἱὸν αὐτοῦ δεδιδαχέναι ὁμώνυμον ἐν ἄστει Ἰφιγένειαν τὴν ἐν Αὐλίδι Ἀλκμαίωνα Βάκχας (αλκμαίω διονα βακχας cod. V, dazu bemerkt Dübner im Kommentar, p. 515: "Scribendum videtur Ἀλκμαίωνα τὸν διὰ Κορίνθου. Das hat Hans Joachim Mette so nicht akzeptiert und folgenden Text vorgeschlagen (Lustrum 23/24, 1981/82, 36 F 109a1, danach auch 209 F 783a): Ἀλκμαίω<να τὸν διὰ Κορίνθου, Παν>δίονα, Βάκχας. Daraus ergibt sich eine Tetralogie mit den Stücken Iphigenie in Aulis, Alkmaion in Korinth, Pandion, und den Bakchen an der Stelle des Satyrspiels. Während der Regierungszeit des Königs Pandion, Sohnes des Erichthonios, kamen der Überlieferung nach Demeter und Dionysos nach Athen, als Kultbringer und zur Einführung der Getreide- und Weinverarbeitung (Apollodor 3, 191; vgl. R. Hanslik, RE XVIII A, 1949, 513-517 s. v. Pandion; Mette 209 F 783). Alkmaion in Korinth ist eine Episode der verwickelten Geschichte des Sohnes des Amphiaraos von Theben und der Eriphyle, Anführers des Epigonenzuges, in der jedenfalls seine Kinder mit der Teiresias-Tochter Manto eine Rolle spielen (Apollodor 3, 94f., vgl. Mette 36f.; eine Πανδιονὶς τετραλογία ist für Philokles, den Neffen des Aischylos bezeugt: TGF I2 24 F 1 Snell-Kannicht). Wenn man annimmt, daß die Stücke nicht - als zufällig vorliegende nachgelassene Texte des Dichters - ohne Grund zusammengestellt wurden, kann man immerhin festhalten, daß es in den beiden ersten Stücken um Opfer, Freikauf und Rettung von Kindern, in den beiden letzten um Artemis und Dionysos als Kultbringer geht, sie also einen dem Euripides entsprechenden, locker-übergreifenden Themenzusammenhang haben.

Ich greife noch einige Punkte heraus. Eine Untersuchung des Wortes ὠμοφάγος scheint zu ergeben, daß damit nicht ,Essen von zerrissenem Fleisch' gemeint ist, sondern lediglich das Reißen von Stücken mit bloßen Händen bezeichnet wird; und tatsächlich ist in den Bakchen diese Bedeutung nicht zu finden. L. vermutet eine Form eines Reinigungsrituals (153ff.). Die Deutung der Schenkelgeburt als eines Symbols für das Veredeln des Weinstocks, das Pfropfen eines neuen Reises auf einen alten Stamm mit Hilfe des Winzermessers und des Okulierschnitts, ist eine plausible, weil vordergründig stimmige und unmittelbar verständliche Erklärung. Sie geht auf die Erklärung von Vasenbildern zurück, die K. Kerényi herangezogen hat. Alle anderen Deutungen sind unbefriedigend (193f.).

Richtig ist, wenn L. betont, daß es Pentheus bei seinem Hinausgehen gemeinsam mit dem Fremden nicht um die Beobachtung an sich, das Voyeuristische, die Bestätigung von Vorurteilen geht, sondern darum, für das, was er vermutet, den Augenschein zu erhalten (222ff.). Pentheus, der König, führt eine Untersuchung durch, die mit der Einführung eines neuen Kultes durch den weiblichen Teil der Bevölkerung befaßt ist; was er braucht, ist der Sachbeweis, und diesen zu erhalten eröffnet ihm der Gott. Es ist daher auch klar, daß Pentheus in den Versen 1120/1121 den untauglichen Weg zur Wahrheitsfindung als seine Verfehlungen erkennt und nicht etwa tieferen Einblick in den von ihm bis zuletzt abgelehnten Kult im Angesicht des Todes erhielte!

Der Staat der Bakchen, so L. (345ff.), ein Vorbild für das Staatskonzept der Stoiker, ist ein Staat für alle; so sollte auch Athen seine Staatsidee nicht nur allen Griechen, sondern auch den Barbaren, Männern wie Frauen, Sklaven und Freien gewähren. Diese revolutionäre (345/346) Botschaft kann ich allerdings im Stück des Euripides so nicht finden.

Ein letztes Kapitel behandelt Textfragen (den Text von Diggle hat L. zur Kenntnis genommen, vgl. 8f.), in folgenden Versen: 263-265 (ἐξ εὐσεβείας), 604-607, 629-631, 651/652 (beide Verse spricht Dionysos, die Annahme einer Lücke - um die Stichomythie zu wahren - ist nicht notwendig), 751-759, 837, 877-881 = 897-901 (877 von Diggle inter cruces gesetzt), 1002-1010, 1156-1158, 1185-1187. Eingehend untersucht L. schließlich alle Möglichkeiten, die Lücken am Schluß der Bakchen (ab 1298) auszufüllen, wobei außer dem Christus Patiens auch die Theseusrede am Schluß von Senecas Phaedra herangezogen wird. Das eigentliche, meist zu wenig beachtete Problem aber bleiben die Verse 1381-1397: Enthalten sie wirklich eine Absage an die Dionysosreligion durch Agaue (und die anderen Thebanerinnen, die mit ihr die Stadt verlassen werden; vgl. dazu auch S. 121) ? Oder sollte man nicht vielmehr die Optative als solche nehmen: bezeichnend den Wunsch, den Bakchoskult des Kithairon, den Thyrsos dorthin zu bringen, wo man ihn noch nicht kennt (βάκχαις δ᾽ ἄλλαισι μέλοιεν 1387), kurz, zu Kultbringern zu werden? Es gibt solches auch am Ende anderer Tragödien: man denkt an die Phoenissen, auch den Oidipus auf Kolonos des Sophokles, oder an die Iph. Taur., wenn Athene Orestes und Iphigenie den Artemiskult nach Attika bringen läßt, und hinter allem steht Odysseus als Bringer des Poseidonkults (Od. 23, 266ff., vgl. 11,  121ff.). Und schließlich gibt es die Fortsetzung des Mythos, wenn Agaue und Autonoe nach Illyrien ziehen (Nonnos, Dion. 46,   364ff.), wie am Beginn des Stücks Dionysos und die Asiatinnen als Kultbringer aus der Fremde gekommen sind.

Herbert Bannert
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