Performativität im Software-Design
Ein gesellschaftspolitischer Zugang zu Praktiken der Software-Entwicklung

In dem vom FWF geförderten Elise-Richter Projekt wird ein gesellschaftspolitischer Ansatz zur Software-Entwicklung erarbeitet. Mit dem Ziel einer wertebasierten Entwicklung von Informationssystemen setzt es sich mit Prozessen und Methoden der Software-Entwicklung auseinander, die Raum für gesellschaftspolitische Reflexion eröffnen.
Etablierte Herangehensweise
EntwicklerInnen setzen bei Design-Entscheidungen technische Verfahren und gesellschaftliche Diskurse miteinander in Beziehung: Etablierte soziale Vorstellungen werden in Informationssysteme eingeschrieben, und umgekehrt gestalten Technikentwicklung und ‑nutzung auch gesellschaftliche Verhältnisse mit. Informationstechnologien drücken also nicht nur soziale, kulturelle und normative Verhältnisse aus, sie reproduzieren sie auch.
Denken wir beispielsweise an das Internet und die technischen Infrastrukturen, die Webinhalte organisieren. Suchtechnologien strukturieren die im Web verfügbaren Informationen. Durch den Einsatz von Linked Data und semantischen Technologien verknüpfen sie diese miteinander und machen bestimmte Aspekte sichtbar und andere unsichtbar. Durch Verknüpfung oder Ausblendung werden Wissensbereiche gleichzeitig definiert, das heißt, bestimmte Sichtweisen werden in den Vordergrund, andere in den Hintergrund gerückt.
Die Datenmodelle, auf denen solche Technologien basieren, setzen wiederum die (gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen) Implikationen dieser Wissensbereiche in Beziehung zueinander. Sie stellen damit scheinbar neutrale Realitäten her.
Auch wenn Datenmodelle also auf Methoden und Tools der Software-Entwicklung basieren, stellen sie das Ergebnis von normativen Designentscheidungen dar und fügen sich dadurch in gesellschaftliche Hegemonien ein. Implizite Annahmen über die generierten Wissensbereiche oder zukünftige Nutzungskontexte bleiben so aber unreflektiert und entwickeln eine Eigendynamik. Sie agieren dabei meistens in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen, die sich beispielsweise in Geschlechter- und Klassenverhältnissen äußern.
Ausgangspunkt des Projekts
In Ansätzen kritischer technischer Praxis werden Arbeitsprozesse wie die kollaborative Entwicklung von Informationssystemen als soziotechnische Praktiken bezeichnet. Abstrakte technische Konzepte und Modelle werden in der alltäglichen Entwicklungspraxis mit sozialem Sinn erfüllt, um sie umsetzbar zu machen. Unbemerkt werden damit Ideologien und hegemoniale Sichtweisen wirksam, und gleichzeitig gefestigt.
In dem vom FWF geförderten Elise-Richter Projekt wird ein gesellschaftspolitischer Ansatz zur Software-Entwicklung erarbeitet. Mit dem Ziel einer wertebasierten Entwicklung von Informationssystemen setzt es sich mit Prozessen und Methoden der Software-Entwicklung auseinander, die Raum für gesellschaftspolitische Reflexion eröffnen.
In Kooperation mit Entwicklungsteams wird der dafür konzipierte Design-Ansatz des ‚Deconstructive Design’ angewendet, weiterentwickelt und evaluiert. Er ermöglicht es EntwicklerInnen, über die politische Relevanz der eigenen Arbeitspraktiken kritisch zu reflektieren. So entsteht Raum für ein Denken und Handeln, das ausschließlich technische Sichtweisen überschreitet und Anstöße für kreativere soziotechnische Lösungen gibt.
Theoretischer Ansatz
Das Projekt verknüpft Forschung zur Ko-Emergenz von Gesellschaft und Technologie mit Ansätzen kritischer technischer Praxis und machtkritischen Konzepten aus der Politikwissenschaft. Theoretisch knüpft das Vorhaben an dem von Judith Butler und Karen Barad entworfenem Konzept der ‚materiell-diskursiven Performativität’ an. Dieses Konzept dient als Erklärungsansatz dafür, wie sich Machtverhältnisse alltäglich durch die verschränkte Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Diskursen und materiellen (z.B. technischen) Phänomenen reproduzieren. Es setzt diskurstheoretische und neuere materialistische Ansätze in der Entwicklung von Informationssystemen praktisch um.
Finanzierung: Austrian Science Fund (FWF)
Projektnummer V273-G15
Publikationen
Publikationen
- (2020). Materiality-critique-transformation: challenging the political in feminist new materialisms. Feminist Theory, 21 (4), 403-411. doi:10.1177/1464700120967289.
- (2020). Materiality-Critique-Transformation: Challenging the Political in New Feminist Materialisms. doi:10.1177/1464700120967289.
- (2020). Deconstructing FAT: using memories to collectively explore implicit assumptions, values and context in practices of debiasing and discrimination-awareness. Proceedings of ACM Conference on Fairness, Transparency, and Accountability. doi:10.1145/3351095.3375688.
- (2019). Of 'Working Ontologists' and 'High-quality Human Components'. The Politics of Semantic Infrastructures. In D. Ribes & Vertesi, J. (Eds.), DigitalSTS: A Field Guide for Science & Technology Studies (pp. 326-348). Princeton and Oxford: Princeton University Press. doi:10.2307/j.ctvc77mp9.25.
- (2019). Dem algorithmischen Bias auf der Spur. Technikfolgenabschätzung – Theorie Und Praxis, 81. Retrieved from https://www.tatup.de/index.php/tatup/issue/view/8/ISSN%202199-9201%2028-1.
- (2016). Pornografie. In J. Heesen (Ed.) (pp. 170-177). Stuttgart: J.B. Metzler..
- (2014). Vergeschlechtlichte Anwender_innen-Erlebnisse und User Experience als soziomaterielles Konzept. In T. -D. -C. Hochschule Heilbronn Kompetenzzentrum, Marsden, M., & Kempf, U. (Eds.), Gender-UseIT – HCI, Web-Usability und UX unter Gendergesichtspunkten (pp. 15-25). Oldenbourg: De Gruyter. Retrieved from http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/428213.
- (2014). Affektive Materialitäten in Geschlechter-Technikverhältnissen. Handlungs- und theorie-politische Implikationen einer antikategorialen Geschlechteranalyse. Freiburger Zeitschrift Für Geschlechterstudien, 20, 59-78. Retrieved from http://www.budrich-journals.de/index.php/fgs/article/view/17135.
- (2014). Streuungsmuster. Ausgewählte Texte aus dem Lise Meitner Literaturpreis. Streuungsmuster. Ausgewählte Texte aus dem Lise Meitner Literaturpreis (p. 216). Wien: Promedia..RISENWBIB Kurzfassung
Natur, Wissenschaft, Technik, Gesellschaft und Geschlechterverhältnisse existieren nicht unabhängig voneinander. Sie sind ineinander verschränkt und entstehen in einem kontinuierlichen Prozess miteinander und durcheinander hindurch. Der Lise Meitner Literaturpreis prämiert Erzählungen und Kurzgeschichten, die dieses Verhältnis in besonders hellsichtiger Weise beleuchten. 'Streuungsmuster' ist der dritte Band preisgekrönter und weiterer Texte aus dem Lise Meitner Literaturpreis.
- (2014). User Experience: Was uns Geschlechter-Technikverhältnisse zeigen. Fiff – Kommunikation Forum Informatikerinnen Für Frieden Und Gesellschaftliche Verantwortung, 31, 47-50..
- (2013). Materiell-diskursive Praktiken und Affekt in der Entwicklung von Informationssystemen – Forschungsbericht für das UC Berkeley Program. Wien..
Konferenzbeiträge/Vorträge
Konferenzbeiträge/Vorträge
-
18.08.2020
, Prague
Doris Allhutter:
Using memory, materiality and affect to reconfigure practices of computing
Joint EASST/4S conference 2020 ‘Locating and Timing Matters: Significance and Agency of STS in Emerging Worlds' -
04.11.2019
, Dagstuhl
Doris Allhutter:
Deconstructing Values in Computing
Dagstuhl Seminar ‘Values in Computing’, Leibniz Center for Informatics -
27.07.2018
, Dresden
Doris Allhutter:
Keynote: Bias in Training Data of Cyber-Physical Systems
International Workshop ’Diversifying Epistemic Perspectives: Gender and Diversity for Participation in Science & Engineering‘ -
13.10.2016
, Bergen
Doris Allhutter:
Information Infrastructures and Governmentality
8th Annual S.NET Meeting: The Co-Production of Emerging Bodies, Politics and Technologies -
28.01.2016
, Wien
Doris Allhutter:
Governing Promises. Microwork, Crowd-Intelligence, and Affective Economies
Symposium 'State, Work and Affect' -
04.12.2015
, Wien
Doris Allhutter:
Algorithmic agencies and human labor in emerging information infrastructures
Living in Technoscientific Worlds. International Conference Celebrating the Launch of STS Austria -
14.11.2015
, Denver
Doris Allhutter:
Difference and inequality in/as infrastructures
4S 40th Annual Meeting -
03.10.2015
, Maribor
Doris Allhutter:
Commentary to the round table discussion ‘Materiality-Critique-Transformation’
Sister-Sixth New Materialisms conference: New Materialist Politics and Economies of Knowledge -
30.01.2015
, Linz
Doris Allhutter:
Digitale Pornografie: visuelle Politiken und affektive Materialitäten
QujOchÖ – collective at the interfaces of art, politics, society and science: Lecture and Talk I -
15.11.2014
, New York
Doris Allhutter:
Crowd microtasking for the semantic revolution: of 'working ontologists' and 'high-quality human components'
Digital Labor Conference 2014: The New School -
26.09.2014
, Barcelona
Doris Allhutter:
Ideology, hegemony and material-discursive performativity – some thoughts on theory-political implications of new materialism
International Conference on New Materialist Methodologies -
05.05.2014
, Graz
Doris Allhutter:
How concepts of ideology, hegemony and sociomateriality frame the micro-politics of ICT design
STS Conference 2014 'Critical Issues in Science and Technology Studies', Panel 'The Politics of ICTs' -
04.04.2014
, Berlin
Doris Allhutter:
User Experience (UX) im Blick geschlechtertheoretischer Zugänge
Fachtagung ’Gender-UseIT 2014. HCI, Web-Usability und UX unter Gendergesichtspunkten' -
07.12.2013
, Wien
Doris Allhutter:
Materiell-diskursive Phänomene analysieren
ÖGGF-Tagung -
03.12.2013
, Wien
Doris Allhutter:
'Materiality at Work': Materielle Praktiken, Affekt und Erinnerung
Ringvorlesung 'Natur/Kulturverhältnisse als Herausforderung für queer-feministische Theorieansätze I'