28.04.2023

Wie sich Ertaubte in Zukunft besser im Kaffeehaus unterhalten könnten

Das Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien und der Cochlea-Implantat-Hersteller MED-EL untersuchen in einem dreijährigen Forschungsprojekt, inwieweit selektive Informationsübertragung Cochlea-Implantierten verbessertes Sprachverständnis in Alltagssituationen ermöglicht.

Bernhard Laback ©ISF/ÖAW

Das Cochlea-Implantat (CI) ist mit mehr als einer Million Implantationen die mit Abstand erfolgreichste Sinnesprothese weltweit. Es ermöglicht tauben oder hochgradig schwerhörigen Menschen die Wiedererlangung des Hörsinns. Dabei wird der Hörnerv, unter Umgehung der Verarbeitung des Innenohrs, mit elektrischen Impulsen direkt angeregt. Erfolge reichen heutzutage vom Sprachverständnis in Ruhe über mühelose Kommunikation in schwierigen Hörsituationen bis zu Musikgenuss und aktivem Musizieren mit CIs. In alltäglichen Hörsituationen mit Hintergrundschall, z.B. in einem Kaffeehaus, ist das Sprachverstehen speziell bei einseitiger CI-Versorgung im Vergleich zu Normalhörenden jedoch noch eingeschränkt. Das normale Gehör nutzt in solchen Situationen Information über die räumliche Position sowie die Sprachtonhöhe, um die Aufmerksamkeit auf die Zielschallquelle zu richten und den Hintergrundschall auszublenden. Moderne CIs übertragen zwar räumliche und Tonhöheninformation bis zu einem gewissen Grad. Bei Alltagssignalen wie Sprache und insbesondere bei mehr als einer gleichzeitig auftretenden Schallquelle stellt die elektrische Anregung des Gehörs mittels CI aber einen Flaschenhals für die Übertragung der räumlichen und Tonhöheninformation dar.

Das von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) geförderte Projekt SELECT verfolgt die Idee, dass die Überlastung dieses Flaschenhalses ein zentrales Problem für das effektive Sprachverstehen im Störgeräusch mit derzeitigen CIs ist. Im Rahmen des FFG-Programms BRIDGE wird Grundlagenforschung mit Anwendungsperspektive gefördert, in diesem Fall in Form einer Kooperation zwischen dem Institut für Schallforschung (ISF) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Firma MED-EL, einem weltweit führenden österreichischen Hersteller von CI-Systemen. Im Rahmen von SELECT soll die Idee der Informationsüberlastung mittels eines neuen Ansatzes experimentell überprüft werden, indem redundante, von CI-Nutzer*innen nicht gehörte Information gezielt entfernt und dessen Auswirkung auf die Wahrnehmung untersucht wird. Mittels einer Reihe von Hörexperimenten wird am ISF unter Mitwirkung von MED-EL unter kontrollierten Laborbedingungen die Hypothese untersucht, dass die modellbasierte Entfernung redundanter Information die Wahrnehmung von Raum und Tonhöhe in komplexen Hörsituationen verbessert. Im nächsten Schritt wird die Auswirkung der Informationsselektion auf das selektive Sprachverstehen in Hörsituationen mit konkurrierendem Störschall untersucht. Schließlich wird das Potential der objektiven Messung der individuellen Eigenschaften des Hörnervs der CI-Nutzer*innen untersucht. Mittels solcher Messungen könnten die für die Informationsselektion benötigten Eigenschaften des individuellen Gehörs in Zukunft automatisiert erfasst werden.

Nach Einschätzung von Bernhard Laback, dem Projektleiter aufseiten des ISF, hat SELECT das Potential, die Kommunikationsfähigkeit von CI-Nutzer*innen in alltäglichen Hörsituationen mit Umgebungslärm zu verbessern.

In den Medien wurde darüber berichtet unter anderem in "Elektrische Schnecke lässt Taube hören" in: Der Standard, 26.04.2023, S. 18, Link.