Man kann die intellektuelle und institutionelle Genealogie der Sozialanthropologie bis an die Anfänge der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zurückverfolgen. Deren Mitbegründer und erster Präsident Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall war nicht nur Philologe und Historiker, sondern auch Ethnograph des Nahen Ostens. Auch der Mediziner Karl Freiherr von Rokitansky, Präsident der Akademie von 1869-1878 und Mitbegründer der Anthropologischen Gesellschaft zu Wien, setzte sich innerhalb der Akademie stark für die Entwicklung und Institutionalisierung der Disziplin im breitesten Sinn ein, die damals physische Anthropologie, Ur und Frühgeschichte, sowie Ethnographie miteinschloss. 1897 kam es zur Gründung der Kommission zur Erforschung amerikanischer, asiatischer und afrikanischer Sprachen, die 1910 in die Kommission zur Erforschung von illiteraten Sprachen außereuropäischer Völker umbenannt wurde, und damit zu einem der institutionellen Vorgänger des ISA wurde. Andere Vorläufer-Einrichtungen waren die Nordarabische und die Südarabische Kommission, die später zur Arabischen Kommission zusammengelegt wurden; und die Kommission für Forschungen in Gefangenenlagern im Ersten Weltkrieg, die Rudolf Pöch initiierte. Sie wurde 1938 mit der Kommission zur Erforschung von illiteraten Sprachen vereinigt und 1961 zur Ethnologischen Kommission umbenannt. In diesen Jahren war der Vorstand des Universitätsinstituts für Völkerkunde, Pater Wilhelm Koppers, zugleich wM der ÖAW. Die Arabische Kommission und die Ethnologische Kommission wurden 1993 zusammengeführt und 1995 umbenannt in die Kommission für Sozialanthropologie. Genauso wie die Anthropologie von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Tätigkeit der Akademie war, war also die Arabien-Forschung von Anfang an ein zentraler Fokus der Sozialanthropologie in Wien, welcher später über die wirklichen Mitglieder Walter Dostal und Andre Gingrich, über Johann Heiss, bis heute zu Marieke Brandt am ISA fortgesetzt wird.

Aber auch ISAs zwei andere Regionalgebiete in Asien – die tibetischen und mongolischen Regionen sowie Südostasien – haben eine lange Geschichte an der Akademie. Der Ethnologe und Begründer der Südostasienwissenschaft Robert von Heine Geldern internationalisierte als Akademie-Mitglied die ethnologische und archäologische Asienforschung, welche später von Helmut Lukas und jetzt Martin Slama sowie Judith Bovensiepen aktiv am ISA weiterentwickelt wurde. Walter Dostal, seinerseits ein Schüler Heine Gelderns, verband nicht nur die lange Südwestarabien-Tradition an der ÖAW, sondern auch die beinahe ebenso lange Tibet-Forschung in Wien mit einem historisch-anthropologischen Zugang. Gemeinsam mit Akademie-Mitglied Ernst Steinkellner, der die philologische Tibet-Forschung revolutionierte und von 1998 bis 2006 Direktor des Instituts für die Kultur- und Geistesgeschichte Asiens war, ermöglichte er die ersten anthropologischen Tibet-Projekte an der ÖAW (mit Hildegard Diemberger und Guntram Hazod), durch die die Kommission für Sozialanthropologie erstmals personalführend wurde. Dieser regionale Schwerpunkt wird heute durch Hubert Feiglsdorfer, Christian Jahoda, Nina Lang, und Stephan Kloos am ISA weitergeführt.

Andre Gingrich, der Gründungsdirektor des Instituts in seiner jetzigen Form, erhielt im Jahr 2000 den Wittgenstein Preis, mit dem er über sechs Jahre mit einem jungen Team lokale Identitäten und überlokale Einflüsse im Nahen Osten, in Tibet und in Südostasien untersuchte. 2003 übernahm er die Obmannschaft der Kommission für Sozialanthropologie von wM Walter Dostal. Nach Auslaufen des Wittgenstein-Projekts wandelte die Akademie 2007 die Kommission in eine Forschungsstelle um und übernahm einen Kern der Wittgenstein-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 2009 wurde die Forschungsstelle zum heutigen Institut für Sozialanthropologie, welches schließlich 2011 nach erfolgreicher Evaluierung entfristet wurde. Seitdem entwickelte sich das ISA zu einem der wichtigsten sozialanthropologischen Forschungsinstitute nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in Europa und darüber hinaus. Andre Gingrich ging mit Anfang August 2019 in den Ruhestand, und Stephan Kloos wurde vom Präsidium der ÖAW im Oktober 2019 mit der interimistischen Leitung des Instituts beauftragt. Seit Herbst 2023 ist Judith Bovensiepen die neue Direktorin des ISA.