12.06.2025

Anpassung und Innovation: Wie alte Viren eine Nische fanden und die Evolution vorantrieben

Einst als genetischer Müll abgetan, sind alte Viren, die in unserer DNA eingebettet sind, tatsächlich mächtige Triebkräfte der Genom-Evolution. Eine neue Studie aus dem Labor von Julius Brennecke am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zeigt, wie sich diese viralen Elemente – so wie Darwins Finken – diversifizierten und sich dabei jeweils an einen bestimmten Zelltyp anpassten.

Die soeben in der Fachzeitschrift EMBO Journal veröffentlichte Arbeit der Brennecke-Gruppe zeigt ein bemerkenswertes Beispiel für den evolutionären Wettlauf zwischen einem Wirtsorganismus und der Innovationskraft von Viren und bietet neue Erkenntnisse über die Abläufe von Evolutionsprozessen im Genom.

Fast die Hälfte unserer DNA besteht aus Sequenzen, die Überbleibsel alter molekularer Kämpfe zwischen unseren Zellen und eindringenden genetischen Elementen wie Viren sind. Früher galten sie als bloße Parasiten ohne Funktion, die das Genom überladen und wurden als „Junk-DNA“ abgetan. Heute werden diese Elemente jedoch als mächtige Triebkräfte der Genom-Evolution anerkannt. In vielen Fällen haben die Wirte den Spieß umgedreht und diese einst parasitären Elemente umfunktioniert, um damit neue Genregulationssequenzen aufzubauen. Viele davon waren sogar entscheidend für große transformative biologische Innovationen, wie z.B. die Entstehung der Plazenta bei Säugetieren.

Endogene Retroviren (ERVs) zählen zu diesen eindringenden Elementen – genetische Relikte alter Viren, die einst Keimzellen infizierten, sich dauerhaft im Genom ansiedelten und so über Generationen weitervererbt wurden. Um dies zu schaffen, mussten sich ERVs ständig weiterentwickeln, denn nur so konnten sie den genetischen Überwachungssystemen des Wirts entkommen. Sie lösten damit einen evolutionären Wettlauf aus, der Innovationen auf beiden Seiten vorantrieb.

Die Erforschung der Anpassung, Spezialisierung und Interaktion von ERVs mit den Abwehrsystemen des Wirts ist entscheidend für das Verständnis ihrer zweischneidigen Identität – sowohl als Bedrohung und Quelle evolutionärer Innovation. Bislang gab es aber kein Modellsystem, das zeigen konnte, wie sich komplette ERV-Linien innerhalb der verschiedenen Zelltypen ihres Wirts entwickelt und diversifiziert haben.

Nun gelang es einem Team um Kirsten Senti und Julius Brennecke vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einzigartige Einblicke in die Evolution von ERVs innerhalb eines Wirts zu ermöglichen:

Das Team zeigt, wie sich eine ganze Klade alter ERVs in verschiedene Varianten aufspaltete, die jeweils auf die Ausnutzung einer anderen zellulären „Nische” im Eierstock der Fruchtfliege spezialisiert sind – und wie sich die DNA-Abwehrmechanismen des Wirts daraufhin anpassten. Ihre Ergebnisse wurden am 5 Juni im EMBO Journal veröffentlicht.

Die Geschichte zweier Strategien

Um die ERV-Aktivität in Echtzeit zu untersuchen, blockierte das Team das eingebaute Überwachungssystem der Zelle (piRNA-System), das fremdes genetisches Material erkennt und stilllegt. Durch diese genomische „Hemmung der Still-Legung“ konnten ruhende ERVs im Eierstock der Fruchtfliege wieder aktiv werden und ihr ursprüngliches Verhalten zeigen.

Mit der Kombination von phylogenetischen Analysen und Genexpressionsanalysen konnte das Team darstellen, wo und wie jedes ERV im Eierstock aktiv war. Sie entdeckten, dass einige ERVs im Laufe ihrer Evolution ein spezielles „Umhüllungsgen” von einem anderen Virustyp erworben hatten. Dieses neue Gen ermöglichte es ihnen, umhüllte Viruspartikel zu bilden, wodurch ERVs von genetischen „blinden Passagieren”, ähnlich wie Retrotransposons, zu aktiven, infektiösen Viren wurden.

Ähnlich wie Darwins Finken auf den Galápagos-Inseln, die unterschiedliche Schnabelformen entwickelten, um sich an die vielfältigen Nahrungsquellen auf den einzelnen Inseln anzupassen, entwickelten sich diese infektiösen ERVs so, dass sie in verschiedenen somatischen Zelltypen im Eierstock exprimiert werden, beispielsweise in Escort- oder Follikelzellen, von wo aus sie die benachbarten Keimzellen infizieren. Ein wichtiger Schritt in dieser Anpassung war die Entwicklung von neuen regulatorischen Elementen, nämlich DNA-Regionen, die steuern, ob und wie stark Gene in einem bestimmten Zelltyp exprimiert werden. Diese sind genau auf das Genexpressionsprogramm jedes Zelltyps zugeschnitten. Diese Spezialisierung ermöglichte es jeder Viruslinie, sich ihre eigene „Nische” zu schaffen, indem sie bestimmte Zelltypen als Sprungbrett nutzte, um sich Zugang zur Keimbahn zu verschaffen und so ihre Übertragung auf die nächste Generation sicherzustellen.

Das Team entdeckte außerdem, dass viele andere ERV-Linien ihre Infektiosität durch Mutationen im erworbenen „Umhüllungsgen“ verloren haben. Interessanterweise starben diese nicht infektiösen Linien nicht aus, sondern verlagerten ihre Expression in Keimzellen, wo sie sich weiterhin unbemerkt in das Genom kopieren und so weitergegeben werden konnten.

Ein genetisches Wettrüsten

Die  Strategie eindringender Viren ist aber nur eine Seite im Konflikt zwischen ERVs und ihrem Wirt. Als die ERVs ihr Verhalten und ihr Territorium veränderten, schlug das Genom-Abwehrsystem des Wirts zurück. Das Team entdeckte, dass der piRNA-Signalweg (ein Genomüberwachungssystem, das auf kleine RNA basiert), seine Abwehrmechanismen anpasste, sodass jeder Zelltyp neu entstehende ERVs erkennen und stilllegen konnte. Diese fortwährende Koevolution zwischen Wirt und Virus schafft eine wechselseitige Dynamik, die weitere Innovationen auf beiden Seiten vorantreibt.

Unsere Studie liefert erste Einblicke, wie sich eine ganze Gruppe von ERVs innerhalb der Zellen eines Wirtsorganismus entwickelt und diversifiziert hat“, sagt Kirsten Senti, Hauptautorin der Studie. „Wir beobachten buchstäblich, wie sich die Evolution auf molekularer Ebene entfaltet.

 

Reichen die Auswirkungen über Fruchtfliegen hinaus?

Die Studie konzentriert sich zwar auf Fruchtfliegen, ihre Ergebnisse haben jedoch weitreichende Auswirkungen. ERVs kommen auch im Genom von Menschen und anderen Wirbeltieren vor, wo sie mit wichtigen evolutionären Innovationen wie der Immunregulation und der Plazentaentwicklung in Verbindung gebracht werden. Die vom Brennecke-Team aufgedeckten Mechanismen könnten Aufschluss geben darüber, wie sich solche viralen Überreste anpassen und über Artengrenzen hinweg bestehen bleiben.

Unsere Ergebnisseliefern einen wichtigen Ausgangspunkt für das Verständnis, wie Retroviren ihre regulatorischen Sequenzen diversifizieren, die der Wirt dann zur Gestaltung seiner eigenen regulatorischen Netzwerke nutzen kann“, erklärt Julius Brennecke. „Dies ist eine der vielen Möglichkeiten, wie Viren die Genom-Evolution geprägt haben.

Diese Studie unterstreicht die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit von ERVs und zeigt, wie eng ihre Evolution mit der ihrer Wirte verflochten ist. Ein Großteil dieses molekularen Kräftemessens ist noch unerforscht. Weitere Untersuchungen werden sicherlich weitere Funktionen von ERVs bei der Förderung biologischer Innovationen aufdecken. Es ist eine Geschichte von Überleben und Spezialisierung und verdeutlicht, dass genomische Feinde für die Entstehung neuer Vielfalt unerlässlich sind.