Bislang wurden historiographische Identitätskonstruktionen oft auf recht einfache Weise diskutiert. Hatte Historiographie irgendeinen Einfluss auf ethnische, politische oder religiöse Identitäten? Und falls dem so war, welche Identität hat ein bestimmtes Werk geschaffen? Insgesamt hat die jüngere historische, textuelle und literaturwissenschaftliche Kritik einen zunehmenden Skeptizismus gegenüber historiographischen Quellen zu Tage gefördert, sowohl im Hinblick auf eine adäquate Reflexion von ‘echten’ Gemeinschaften (weil die Texte zu einseitig waren) und auf ihre potentielle Wirkung auf die Schaffung und Förderung bestimmter Identitäten (weil die Rezeption und der Einfluss des Texts nur selten belegt sind). Ziel des Projekts ist es, einen vielschichtigeren Ansatz zu entwickeln. Tatsächlich erschaffen die wenigsten historiographischen Werke eine einzelne Identität, sondern vielmehr eine ganze Bandbreite an möglichen Identifikationen. Ihre Narration entwickelt mehrere Möglichkeiten und erkundet ihre Chancen und Grenzen. Jedes Werk reagiert auch auf andere mögliche Identifikationen, deren Stimmen im Kontext einer polyphonen Diskussion meist verloren gegangen sind, aber welche bis zu einem gewissen Punkt durch die Reaktionen in unserem Text rekonstruiert werden können.

An dem Projekt, welches im Kontext des SFB ‘Visions of Community’ (VISCOM) unternommen wird, sind mehrere Mitarbeiter/innen des Instituts für Mittelalterforschung beteiligt sowie zahlreiche eingeladene Gäste. Das Thema wurde innerhalb einer Reihe von Workshops diskutiert, die in Wien, Princeton und Prag von 2012 bis 2015 stattfanden. Auf dieser Grundlage werden sechs gemeinsame Bände bei Brepols publiziert. Diese zielen nicht auf eine neue Geschichte oder Geschichtsschreibung ab, sondern auf eine Studienreihe, um einige Teile des erheblichen Potentials der Identifikation zu rekonstruieren, welches frühe (und auch späte) mittelalterliche Historiographie entwickelte, und die wiederum reichhaltige Quellen für weitere Identitätskonstruktionen im europäischen Mittelalter darstellten.

Der SFB ist affiliiert mit der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

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