Die in dieser Arbeitsgruppe angesiedelten Projekte untersuchen auf Basis ganz unterschiedlicher historischer Quellengattungen Formierungs- und Veränderungsprozesse im karolingischen Frankenreich und dessen Nachfolgestaaten. Als eine der erfolgreichsten frühmittelalterlichen Vergemeinschaftungen prägte das Karolingerreich die politische, soziale, religiöse und kulturelle Ordnung großer Teile Europas vom 8. bis ins 10. Jahrhundert. Seine allmähliche Auflösung, die schon im 9. Jahrhundert ihren Anfang nahm, wurde schon von Zeitgenossen und wird auch in der modernen Forschungsliteratur häufig als eine Tragödie beschrieben – als elementarer Zustand einer düsteren Epoche zwischen der formierenden Gestaltung Europas durch die Familie Karls des Großen und dem Hervortreten des nationalstaatlichen Mittelalters im 11. Jahrhundert.
Die ältere Geschichtsschreibung ortete in der post-karolingischen Epoche einen Bedeutungsverlust des imperialen Zentrums sowie der karolingischen politischen Ordnung, der zum Auslöser politischer Fragmentierung und zur Entstehung der späteren europäischen Nationalstaaten wurde. Moderne Narrative interpretieren diese Zeit oft als eine von Desintegration der politischen Geographie, der Institutionen und der sozialen Strukturen des 9. Jahrhunderts geprägte Periode. Eben diese regionale Diversität des 10. Jahrhunderts und die Fragilität politischer Strukturen waren es aber, die diese Krisen- bzw. Übergangzeit mit einem enormen Potential für grundlegende und bleibende Veränderungen in der sozialen und politischen Ordnung Europas ausgestattet haben. Autorität nahm neue Formen, etwa durch den Machtzuwachs einflussreicher Familien und Bischöfe, regionale Gemeinschaften traten als politische Akteure hervor, Grenzen veränderten sich kontinuierlich und überkommene politische Strukturen und Institutionen wurden adaptiert.
Fragmentierung, Partikularisierung und Regionalisierung können also nicht nur als Symptome einer krisenhaften Zeit, sondern auch als die Suche nach Chancen interpretiert werden, neue Strukturen in allen Bereichen – von der Politik bis zur Religion, vom Recht bis zur Gelehrsamkeit − zu etablieren. Diese Entwicklungen machten Veränderungen in den Diskursen über politische und soziale Ordnung notwendig – Veränderungen, die Historiker/innen in den erhaltenen Quellen aus dieser aufregenden Periode nachspüren können. Das postimperiale Fehlen von Einigkeit über den Ort und die Art von sozialer und politischer Autorität war ein essentielles Merkmal des 10. und 11. Jahrhunderts, und dieses wird nicht zuletzt in den vielen verschiedenen Möglichkeiten der Nutzung der Vergangenheit untersucht.

Kontakt

PD Dr. Maximilian Diesenberger MAS

+43-1-51581-7203
max.diesenberger(at)oeaw.ac.at