GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Elise Richter


geb. am 2. März 1865 in Wien, gest. am 21. Juni 1943 im Ghetto Theresienstadt (Terezín, Tschechische Republik)

Elise Richter war von 1928 bis 1938 mit Unterbrechungen am Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Nach dem „Anschluss“ wurde sie aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte ihre Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Sie wurde im Oktober 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und ist dort umgekommen.

Richter wurde als Tochter des Chefarztes der k.k. priv. Südbahngesellschaft Dr. Maximilian Richter (verst. 1890) und seiner Frau Emilie, geb. Lackenbacher (verst. 1889), in Wien geboren. Elise Richter und ihre Schwester Helene (1861–1942 Ghetto Theresienstadt) erhielten zunächst Privatunterricht. Bis 1892 war Mädchen der Gymnasialbesuch nicht erlaubt, seit Frühjahr 1896 durften auch Frauen die Reifeprüfung ablegen. Elise Richter legte diese als erste Frau in Österreich-Ungarn am 15. Juli 1897 am Akademischen Gymnasium in Wien ab und nahm im folgenden Wintersemester die Studien der Romanistik, Sprachwissenschaft, d.h. Indogermanistik, Klassischen Philologie und Germanistik an der Universität Wien auf.

1901 promovierte Richter und 1905 habilitierte sie sich als erste Frau Österreich-Ungarns sowie des deutschen Sprachraums mit der Schrift „[Lateinisch] AB im Romanischen“. 1907 verlieh ihr das Unterrichtsministerium schließlich die Lehrbefugnis. Am 29. August 1921 erhielt Elise Richter – abermals als erste Frau – in Österreich den Titel eines ao. Universitätsprofessors. Seit 1927 erfüllte sie einen bezahlten Lehrauftrag für Sprachwissenschaft und Phonetik.

Am Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien war sie ab 1928 forschend tätig. 1928/29 führte sie beispielsweise Lautstudien anhand französischer Sprachplatten durch. In den Jahren 1934, 1935 und 1936 hielt sie gemeinsam mit dem Leiter des Archivs Leo Hajek Praktika über experimental-phonetische Arbeitsmethoden für Studierende der Philologie an der Universität Wien ab. 1937 bis 1938 war sie mit eigenen Forschungen beschäftigt, laut dem Almanach der Akademie forschte sie über inspiratorische Laute. Möglicherweise arbeitete sie an ihren Untersuchungen der italienischen č- und ŝ-Laute, deren Ergebnisse sie 1940 in Amsterdam veröffentlichte.

1922 gründete Elise Richter auf Ersuchen der International Federation of University Women mit Sitz in London den Verband der Akademikerinnen Österreichs (VAÖ). Sie stand diesem bis 1930 vor. Richter schloss sich in der Ersten Republik dem bürgerlich-konservativen Lager an. Unter dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime trat sie der Vaterländischen Front bei.

Der Titular-Extraordinaria für Romanische Philologie wurde nach dem „Anschluss“ wegen ihrer jüdischen Herkunft durch Erlass des Bundesministeriums für Unterricht vom 22. April 1938 die Lehrbefugnis an der Universität Wien entzogen. An der Akademie der Wissenschaften wurde ihr das Betreten des Phonogrammarchivs verboten. Wegen der antisemitischen Repressalien konnte Richter ihre letzten Arbeiten 1940 bis 1942 nur noch in den Niederlanden und in Italien publizieren. Die Möglichkeit, im Februar 1939 nach Großbritannien zu emigrieren, nahmen Elise und ihre Schwester Helene Richter, eine renommierte Anglistin und Theaterwissenschafterin, nicht wahr. Beide verblieben zunächst in ihrem Haus in Wien-Döbling (Weimarer Straße 83), das sie 1922 gegen Leibrente an die Industriellen Rudolf und Max Gutmann verkauft hatten. Das Haus wurde in der NS-Zeit „arisiert“, neue Besitzerin war Ludmilla Wild, Ehefrau des NSDAP-Angehörigen und Mitglieds der Akademie der Wissenschaften in Wien, Friedrich Wild. Wild wurde 1940 zum Obmann der Phonogrammarchiv–Kommission gewählt.

Aufgrund der finanziell zunehmend prekären Lage boten die Schwestern den bis dahin noch nicht veräußerten Teil ihrer Bibliothek im Umfang von rund 3.000 Bänden der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln an, erhielten dafür allerdings letztlich kein Geld. Im März 1942 mussten Elise und Helene Richter in das Jüdische Altersheim in der Seegasse 16 in Wien-Alsergrund umziehen. Von dort aus wurde Elise Richter am 9. Oktober 1942 gemeinsam mit ihrer Schwester Helene in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Helene verstarb wenige Wochen später, Elise kam dort 1943 im Alter von 78 Jahren um.

Nach Elise Richter wurden 1999 ein Förderpreis für herausragende romanistische Habilitationen und Dissertationen des Deutschen Romanistenverbandes, 2003 ein Hörsaal der Universität Wien und 2006 ein Frauenförderungsprogramm des österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) sowie 2008 eine Verkehrsfläche in Wien (Elise-Richter-Weg, 21. Bezirk) und Köln (Elise-Richter-Platz) benannt. Am Campus der Universität Wien (Altes AKH) wurde eines der "Tore der Erinnerung" nach ihr benannt. Die österreichische Schriftstellerin Marie-Thérèse Kerschbaumer setzte den beiden Schwestern in ihrem Werk „Der weibliche Name des Widerstands“ 1980 ein literarisches Denkmal. Elise Richters Tagebücher im Umfang von mehr als 12.000 Seiten sind bis heute – von wenigen Passagen abgesehen – noch unveröffentlicht, eine digitale Gesamtausgabe wird an der Universität Wien vorbereitet.


Schriften (Auswahl)


  • Elise Richter, Zur Entwicklung der romanischen Wortstellung aus der lateinischen, Dissertation, Universität Wien 1901.
  • Dies., [Lateinisch] „Ab“ im Romanischen, Halle 1904.
  • Dies., Wie wir sprechen. Sechs volkstümliche Vorträge (= Natur und Geisteswelt 354), Leipzig 1912.
  • Dies., Lautbildungskunde. Einführung in die Phonetik, Leipzig 1922.
  • Dies., Erziehung und Entwicklung, in: Elga Kern (Hg.), Führende Frauen Europas, München 1928, 70–93.
  • Dies., Die Entwicklung des neuesten Französischen, Bielefeld 1933.
  • Dies., Die italienischen č und ŝ Laute. Untersuchung an umgekehrt laufenden Schallplatten (= Archives Néerlandaises de Phonétique Expérimentale 16), Amsterdam 1940.
  • Dies., Kleinere Schriften zur Allgemeinen und Romanischen Sprachwissenschaft. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Yakov Malkiel. Mit einer Bibliographie von B. M. Woodbridge, Jr., Gesamtredaktion: Wolfgang Meid (= Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 21), Innsbruck 1977.
  • Dies., Summe des Lebens (Autobiographie), hg. vom Verband der Akademikerinnen Österreichs, Wien 1997.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1929–1937.
    • Helene Adolf, In memoriam Elise Richter, in: Romance Philology 1 (1948), 338–341.
    • Mitchell G. Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 29–172, hier: 66, 115–117.
    • Walter Brunner, Ansprache anläßlich der Enthüllung der Gedenktafel für Elise Richter [am Institut für Romanistik der Universität Wien], in: Semiotische Berichte 9, 1, 2 (1985), 176–179.
      Hans Helmut Christmann, Frau und „Jüdin“ an der Universität. Die Romanistin Elise Richter (Wien 1865 – Ghetto Theresienstadt 1943) (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 198, 2), Mainz–Wiesbaden 1980.
    • Thierry Elsen, Robert Tanzmeister, In Sachen Elise und Helene Richter. Die Chronologie eines „Bibliotheksverkaufs“, in: Murray G. Hall – Christina Köstner – Margot Werner (Hg.), Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit, Wien 2004, 128–138.
    • Murray G. Hall - Christina Köstner, … allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern … Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien–Köln–Weimar 2006, 74, 188, 270–274.
    • Waltraud Heindl, Bildung und Emanzipation. Studentinnen an der Universität Wien, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 529–563, hier: 547.
    • Christiane Hoffrath, Die Bibliothek der Schwestern Elise und Helene Richter in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, in: Regine Dehnel (Hg.), NS-Raubgut in Bibliotheken. Suche, Ergebnisse, Perspektiven. Drittes Hannoversches Symposium im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 94), Frankfurt am Main 2008, 127–138.
    • Christiane Hoffrath, Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im „Dritten Reich“ (= Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 19), Köln–Weimar–Wien 2009.
    • Bernhard Hurch (Hg.), Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks I: Caroline Michaëlis de Vasconcellos, Elise Richter, Hugo Schuchardt und Leo Spitzer (= Grazer Linguistische Studien 72), Graz 2009.
    • Bernhard Hurch, Apropos Elise Richter, in: derStandard.at, 29.11.2008.
    • Doris Ingrisch, Gender-Dimensionen, in: Katharina Kniefacz – Elisabeth Nemeth – Herbert Posch – Friedrich Stadler (Hg.), Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert, Göttingen 2015 (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 1), 337–361, hier: 339–342.
    • Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945, Bd. 1, Tübingen 2010, 631–641.
    • Ramon Pils, „Ein Gelehrter ist kein Politiker.“ Die Professoren der Wiener Anglistik im Kontext des Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash – Wolfram Nieß – Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 455–485, hier: 475–477.
    • Michaela Raggam-Blesch, A Pioneer in Academia: Elise Richter, in: Judith Szapor – Andrea Pető – Maura Hametz – Marina Calloni (Hg.), Jewish Intellectual Women in Central Europe 1860–2000. Twelve Biographical Essays, Lewiston, NY–Queenston–Lampeter 2012, 93–128.
    • Lorenzo Renzi, Elise Richter (1865–1943), in: Jan de Clercq – Piet Desmet (Hg.), Florilegium historiographiae linguisticae. Études d’historiographie de la linguistique et de grammaire comparée à la mémoire de Maurice Leroy (= Bibliothèque des Cahiers de l’Institut de Linguistique de Louvain 75), Louvain-la-Neuve 1994, 413–429.
    • Camilla Staudigl-Ciechowicz, Zwischen Aufbegehren und Unterwerfung. Politik und Hochschulrecht 1848–1945, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 429–460, hier: 446, 447.
    • Robert Tanzmeister, Die Wiener Romanistik im Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash – Wolfram Nieß – Ramond Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel Wien, Göttingen 2010, 487–520, hier: 488–514.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 45, 229.
    • Marlene Wahlmüller, Die Akademie der Wissenschaften in Wien. Kontinuitäten und Diskontinuitäten 1938–1945, Diplomarbeit, Universität Wien 2010, 64, 76, 77, 82–86.


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