Österreichisches Biographisches Lexikon

Biographie des Monats

The Man behind the Four-Minute Mile: Franz Stampfl

Seine letzten Lebensjahre müssen – querschnittgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt – für jemanden, dessen Leben ganz dem Sport und der körperlichen Bewegung gewidmet war, ein Martyrium gewesen sein. Trotzdem hat er nie aufgegeben – weder seine Tätigkeit noch sich selbst. Die Rede ist von Franz Stampfl, dem legendären Trainer international bekannter australischer und englischer Top-Athleten, dem „Man behind the Four-Minute Mile“.

 

Zimmer, Küche, Kabinett in Ottakring

Geboren wurde der Mann mit dem sehr unenglischen Namen in Wien, vor hundert Jahren, genau genommen am 18. November 1913 als eines von sieben Kindern. Der Vater, Josef Stampfl, soll auf nicht mehr zu rekonstruierende Weise sein Vermögen verloren haben und betrieb eine kleine Firma für die Erzeugung chirurgischer Instrumente. Die Mutter, eine geborene Josepow, stammte angeblich aus jener russischen Fürstenfamilie, die auch den Rasputinmörder hervorbrachte. Klarheit über die noble Verwandtschaft ließ sich trotz Recherchen der Familie allerdings nicht gewinnen.

Franz Stampfl lebte gemeinsam mit Eltern, Großmutter und sechs Geschwistern äußerst bescheiden in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung in Wien-Ottakring. Auf Wunsch des Vaters hatte er eine kaufmännische Ausbildung absolviert und sollte später die Firma weiterführen. Allerdings widersprach dies entschieden seiner eigenen Lebensplanung. Franz besuchte zwar – vermutlich als externer Schüler – Kurse an der Kunstgewerbeschule, der späteren Universität für angewandte Kunst, sah jedoch seine berufliche Zukunft zunehmend im Bereich des Sports. So hatte er früh auf den Hügeln des Wienerwalds Schifahren gelernt und begeisterte sich daneben für Leichtathletik, wobei seine besondere Stärke im Speerwurf lag: 1935 wurde er sogar Juniorenmeister in dieser Disziplin. Daneben arbeitete er seit 1933 als Jugendtrainer beim WAF („Wiener Association Footballclub"). 1936 war er als Assistent des Cheftrainers des österreichischen Leichtathletik-Olympiateams, Harold Anson Bruce, Teilnehmer an den Olympischen Spielen in Berlin. Aus heute nicht mehr bekannten – wahrscheinlich disziplinären – Gründen wurde er jedoch nach seiner Rückkehr vom Leichtathletik-Verband für zwei Jahre gesperrt. Dies sowie Probleme mit dem dominanten Vater und nicht zuletzt die wirtschaftliche und politische Lage, insbesondere die Bedrohung Österreichs durch das totalitäre Naziregime, das er ja in Berlin aus nächster Nähe erlebt hatte, veranlassten ihn, seiner Heimat den Rücken zu kehren und seine Zukunft in Großbritannien, dem Mutterland des Sports, zu suchen.

 

Interniert und deportiert

Auch in England, wo er im Frühsommer 1937 ankam, verfolgte Stampfl vorerst beide Berufsziele. Er besuchte eine Zeitlang die Chelsea School of Arts, erkannte aber immer mehr, dass er – wenn auch künstlerisch talentiert und intellektuell beschlagen – den Großen nie würde das Wasser reichen können. Die Malerei ließ ihn aber auch später nie mehr ganz los, wovon zahlreiche von ihm selbst gemalte Bilder zeugen. Anders im Sport. Versehen mit Empfehlungsschreiben des „Sport Tagblatts“, für das er als Korrespondent tätig sein und Artikel über sportliche Ereignisse in Großbritannien verfassen sollte, und des WAF, lernte er Harold Abrahams, 100 Meter-Olympiasieger 1924 und mittlerweile einer der wichtigsten Sportfunktionäre des Königreichs, kennen, der ihm Jobs in Oxford, bei der Loughborough College Summer School sowie in Nordirland verschaffte. Jedoch setzte der Kriegsbeginn 1939 seiner Tätigkeit ein Ende. Stampfl wollte sich freiwillig zur RAF melden, wurde aber stattdessen festgenommen und vom MI5 verhört. Später wurde er als „enemy alien“ interniert und soll auf der „Arandora Star“, die bald nach Auslaufen, am 2. Juli 1940, von einem deutschen Torpedo getroffen und versenkt wurde, nach Kanada deportiert worden sein, allerdings ist sein Name quellenmäßig, etwa auf den Passagier- bzw. Überlebendenlisten dieses Schiffes, nicht greifbar. Auf jeden Fall war Stampfl unter jenen mehr als 2.000 Internierten (sogenannten Dunera Boys), die einige Tage später mit dem Truppentransporter HMT „Dunera“ unter verheerenden sanitären Bedingungen und von der Wachmannschaft misshandelt und ausgeraubt von Liverpool aus in Richtung Australien verschifft wurden. Nach der Ankunft im September 1940 wurden die Passagiere erneut interniert. Stampfl kam vorerst ins Lager Hay im Bundesstaat New South Wales, wo er unter anderem an der Organisierung sportlicher Aktivitäten beteiligt war, und im Mai des Folgejahres nach Tatura (Victoria). Erst durch seine Verpflichtung zur australischen Armee erlangte er 1942 seine Freilassung. Fortan diente er bei der 8th Australian Employment Company, die hauptsächlich infrastrukturelle Aufgaben zu erfüllen hatte, zuletzt im Rang eines Corporals. Anfang 1946 wurde er demobilisiert und kehrte unmittelbar darauf, wohl aufgrund der besseren beruflichen Aussichten, nach Großbritannien zurück. Dort heiratete er 1947 Patricia Cussen, eine Australierin, die er während seines Militärdiensts kennengelernt hatte.

 

 

Der Weg zum Erfolg – „The Perfect Mile“

Wieder war es Harold Abrahams, der Stampfl beruflich unter die Arme griff. Erneut verschaffte er ihm eine Stelle in Nordirland, wo der Rückkehrer diesmal als Nationaltrainer agieren sollte. Dabei konnte er besonders die Karriere der späteren Hochsprung-Weltrekordlerin und Medaillengewinnerin Thelma Hopkins fördern, die sich 1948 unter Stampfls Fittiche begab. Als Erster führte er im selben Jahr das Training in der Halle ein, wodurch nun auch kontinuierliche Übungsmöglichkeiten für Wurf- und Sprungdisziplinen gewährleistet waren. Als der nordirische Verband in finanzielle Schwierigkeiten geriet, musste sich Stampfl nach einer neuen Stelle umsehen und ging nach London, wo er sich in der Folge als Sportartikelverkäufer sowie als freiberuflicher Leichtathletikcoach durchschlug, indem er Trainingsstunden in den Duke of York’s Barracks in Chelsea gab. Schon bald hatte er nicht nur großen Zulauf, sondern fungierte bei den Olympischen Spielen 1952 auch als Betreuer des pakistanischen Teams. Unter seinen englischen Schützlingen befand sich auch der Mittel- und Langstreckenläufer Chris Brasher, der Stampfl 1953 mit seinen Trainingsgefährten Roger Bannister und Chris Chataway bekannt machte. Die Verbindung mit den dreien wurde für Stampfl buchstäblich zum Meilenstein in seiner Karriere, denn unter seiner Leitung wurde ein Plan ausgetüftelt, mit dem Bannister im Mai 1954, unterstützt von Brasher und Chataway als Tempomacher, als Erster die 4-Minuten-Grenze über die Meile brechen sollte. Auch die beiden Letztgenannten sollten zu Stampfls Erfolgsbilanz als Coach beitragen: Während Chataway kurz danach den Weltrekord über 5.000 Meter unterbot, gewann Brasher überraschend den 3.000 Meter-Hindernislauf bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne. Stampfl, der über die Fähigkeit verfügte, Bewegungsabläufe genau zu analysieren, hatte mittlerweile ein zukunftsweisendes Buch verfasst („On Running“, London 1955), in dem er seine Trainingsmethoden darlegte. Das in der Fachwelt intensiv rezipierte Werk wurde mehrfach aufgelegt und übersetzt. Darin propagierte er nicht nur das Intervalltraining, bei dem hohe körperliche Belastung und kurze Erholungsphasen abwechselten, sondern betonte auch die psychologische Komponente in Training und Wettkampf.

 

Erfolg und Katastrophe

Seine Erfolge wurden auch in Australien registriert. Stampfl erhielt daraufhin an der Universität Melbourne eine feste Anstellung als Sportlicher Direktor und war damit der Erste, der eine solche fixe Stelle besetzen konnte. In der Folge trainierte er zahlreiche Spitzenathleten auf dem Melbourne University Track, die Erfolge auf nationaler und internationaler Ebene sowie Weltrekorde erzielen konnten. Unter ihnen ist der mehrfache Weltrekordhalter Ron Clarke, der in den 1960er-Jahren zahlreiche Bestmarken über die Mittel- und Langstrecke erzielen konnte, daneben der Mittelstreckenläufer Ralph Doubell, der, dank Stampfls physischer und mentaler Vorbereitung, 1968 als Außenseiter die Goldmedaille im 800 Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen in Mexiko gegen härteste Konkurrenz erringen konnte.

Stampfls glanzvolle Karriere erhielt 1980 einen jähen Knick. Nach einem schweren Autounfall, in den er schuldlos verwickelt war, blieb er vom Hals abwärts gelähmt, setzte aber seine Tätigkeit vom Rollstuhl aus fort und konnte noch weiteren Sportlerinnen und Sportlern, wie der Kugelstoßerin und olympischen Bronzemedaillengewinnerin 1984 Gael Martin, zu beachtlichen Erfolgen verhelfen. Bis fast zuletzt war er für mehrere Stunden täglich auf dem Gelände der Universität Melbourne anwesend, um seine Sportler zu betreuen. Er verstarb am 19. März 1995 in Melbourne. Nach Österreich zurückgekommen ist er nur für private Besuche.

Obwohl Stampfl in der internationalen Leichtathletikszene eine bekannte Persönlichkeit war und Ehrungen in den USA, Kanada und nicht zuletzt in Australien erhielt und 1981 mit dem Orden Member of the British Empire (MBE) sowie 1989 durch Aufnahme in die Sport Australia Hall of Fame ausgezeichnet worden war, wurden seine Leistungen und Erfolge in seiner ehemaligen Heimat Österreich kaum wahrgenommen. Das soeben fertiggestellte Buch von Andreas Maier "Franz Stampfl" soll dabei ebenso Abhilfe schaffen wie eine im Entstehen begriffene englischsprachige Biographie und ein Film, den sein Sohn Anton Stampfl in Australien veranlasst hat.

Franz Stampfls Name ist auch heute noch zahlreichen Sportinteressierten in der englischsprachigen Welt ein Begriff.

 

L.: B. Patkin, The Dunera Internees, 1979, s. Reg.; C. Pearl, The Dunera Scandal, 1983, S. 82; K. Bittmann, Strauss to Matilda. Viennese in Australia 1938–88, 1988, S. 279–284 (m. B.); M. J. Norst – J. McBride, Austrians in Australia, 1988, s. Reg.; Oxford Dictionary of National Biography 52, 2004; R. Katzenbeisser – A. Maier, Der unbekannte Gigant, in: ÖLV Nachrichten, 2011, Nr. 10, S. 15f.; National Archives of Australia, Canberra, Melbourne, Sydney, Australien; The National Archives, Kew, London, GB; WStLA, Wien; Privatarchiv Anton Stampfl, Sydney, NSW, Australien; Mitteilung Anton Stampfl, Sydney, NSW, Bern Brent und Carol Bunyan, beide Canberra, ACT, alle Australien, und Andreas Maier, Wien.

(Elisabeth Lebensaft – Christoph Mentschl)


Wir danken Anton Stampfl herzlich für die Überlassung des Bildmaterials.