Österreichisches Biographisches Lexikon

Biographie des Monats

Paul Ehrenfest: „Je mehr man den Quanten nachjagt, desto besser verbergen sie sich“

Am 25. September 2013 jährt sich der 80. Todestag von Paul Ehrenfest. Der heute vielfach unbekannte österreichische Physiker zählte zum engsten Freundeskreis von Albert Einstein und wurde aufgrund seiner Hypothese von den „adiabatischen Inventarien“ zu einem der Wegbereiter der Atomphysik. Geboren in eine jüdische Familie, verlebte er eine wechselvolle Kindheit und Jugend und musste früh die Schwierigkeiten, in der wissenschaftlichen Welt Fuß zu fassen, kennenlernen. Geprägt von zahlreichen Schicksalsschlägen wählte er 1933 in Amsterdam den Freitod.

 

Kindheit und Ausbildung

Paul Ehrenfest kam am 18. Jänner 1880 als jüngster Sohn des jüdischen Kaufmanns Sigmund Ehrenfest und von Johanna Ehrenfest, geborene Jellinek, in Wien zur Welt. Er hatte vier Geschwister. Sein um zehn Jahre älterer Bruder Hugo wurde 1894 in Wien zum Dr. med. promoviert und war später als angesehener Gynäkologe und Geburtshelfer in St. Louis und Washington D.C. tätig. Ein anderer Bruder, der Bauingenieur Arthur Ehrenfest, übernahm nach dem Tod des Vaters 1896 die Vormundschaft für Paul. Er legte auch den Grundstein für Pauls Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften. Der junge Knabe, der bereits im Alter von zehn Jahren seine Mutter verlor und in seiner Kindheit oft kränkelte, besuchte zunächst ab 1890 wenig erfolgreich das Akademische Gymnasium in Wien, wechselte dann an das Franz-Joseph-Gymnasium (heute: Gymnasium Stubenbastei), wo er 1899 die Matura ablegte. Im Anschluss inskribierte Ehrenfest Chemie an der Technischen Hochschule, studierte daneben aber auch Physik an der Universität Wien, unter anderem bei Friedrich Hasenöhrl und Ludwig Boltzmann. Insbesondere Boltzmanns Vorlesungen über mechanische Wärmetheorie weckten Ehrenfests Interesse für theoretische Physik. 1901 wechselte er an die Universität Göttingen, wo er Vorlesungen u. a. bei David Hilbert, dem späteren Nobelpreisträger Walter Nernst oder dem Astronomen Karl Schwarzschild hörte. 1903 lernte er auf einer Reise nach Leiden den Physiker Hendrick Antoon Lorentz kennen, der später bestimmend für Ehrenfests Lebensweg werden sollte. Nach Abfassung seiner Dissertation „Die Bewegung starrer Körper in Flüssigkeiten und die Mechanik von Hertz“ wurde Ehrenfest 1904 zum Dr. phil. an der Universität Wien promoviert. Im selben Jahr trat er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und heiratete im Dezember die russische Mathematikerin Tatjana Afanassjewa (geb. Kiew, 19. 11. 1876; gest. Leiden, 14. 4. 1964), die er während seines Studiums in Göttingen kennengelernt hatte und die ihm zeitlebens wissenschaftlich zur Seite stand. Das Paar hatte zwei Töchter, Tatjana Pawlowna (1905-1984), ebenfalls eine Mathematikerin, und Galinka (1910-1979), die sich als Kinderbuchautorin einen Namen machte, sowie zwei Söhne, den Physiker Paul (1915-1939) und Vassily (1918-1933).

Beruflicher Werdegang

Die ersten beiden Jahre seiner Karriere verbrachte Ehrenfest an der Universität Wien, im September 1906 ging er zurück an die Universität Göttingen, wo er zunächst mit der Abfassung eines Artikels über statistische Mechanik für die „Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften“ betraut war. In dieser fundamentalen Arbeit „Die begrifflichen Grundlagen der statistischen Auffassung in der Mechanik“, die 1911 in Druck erschien, setzte er sich gemeinsam mit seiner Gattin Tatjana kritisch mit mehreren Standpunkten von Boltzmann, wie etwa mit dessen statistischen Auswertungsverfahren für Mathematik und Physik, auseinander. Die Publikation zeichnet sich durch eine scharfe logische Analyse von grundlegenden Hypothesen, klare Abgrenzungen der ungelösten Fragen und Erklärungen der allgemeinen Grundsätze durch einfache Beispiele aus.

Von 1907 bis 1912 wirkte Ehrenfest aufgrund seiner österreichischen Staatsbürgerschaft ohne feste Anstellung in St. Petersburg. Obwohl das Ehepaar finanziell das Auslangen finden konnte, war dieser Zustand für den jungen Wissenschaftler keineswegs befriedigend. Auf der Suche nach einem fixen Posten besuchte er deutschsprachige Universitäten in Europa, wo er vielbeachtete Vorträge hielt. Dabei lernte er 1912 in Prag Albert Einstein persönlich kennen, mit dem ihn künftig eine jahrelange Freundschaft verband. 1912 erfolgte auch die lang ersehnte berufliche Wende: Ehrenfest wurde als Nachfolger von Hendrick Antoon Lorentz Professor für theoretische Physik in Leiden. Ausschlaggebend dafür war sein oben erwähnter Beitrag in der „Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften“, von dem Lorentz ziemlich beeindruckt war. Als Antrittsvorlesung hielt Ehrenfest den Vortrag „Zur Krise der Lichtaether-Hypothese“. Bis auf einige Auslandsaufenthalte als Gastvortragender blieb er bis zu seinem Tod an der Universität Leiden tätig. Ehrenfest wirkte entscheidend an der Ausgestaltung des Instituts mit und pflegte einen regen persönlichen Kontakt zu seinen Studenten, insbesondere durch die Initiierung des sogenannten Mittwoch-Kolloquiums (Colloquium Ehrenfestii), aber auch zu Fachkollegen im Ausland, die ihn wiederholt in Leiden besuchten, darunter Niels Bohr, Wolfgang Pauli und Albert Einstein. Einstein sagte einmal über Ehrenfest „Er war nicht nur der beste Lehrer in unserem Beruf, den ich je gekannt habe, er war auch leidenschaftlich mit der Entwicklung und dem Schicksal der Menschen, vor allem seiner Studenten beschäftigt.“ Seine Vorlesungen galten als brillant, geprägt von einer sprachlichen Mischung aus Englisch, Niederländisch und einem Wiener Dialekt. Seine Stärke als Universitätslehrer lag vor allem in seinem Streben nach Klarheit und einwandfreier Deutung in wissenschaftlichen Diskussionen. Zu seinen Schülern zählte unter anderem der spätere Nobelpreisträger Jan Tinbergen. 1922 nahm Ehrenfest die holländische Staatsbürgerschaft an.

 

Ehrenfest als Wissenschaftler

Ehrenfests wissenschaftliche Arbeiten befassten sich neben der statistischen Mechanik und der kinetischen Theorie der Materie vor allem mit der Planckschen Quanten- und der Kapillaritätstheorie aber auch mit der Gravitationstheorie, der Elektronentheorie, der Theorie des Lichts und jener des Magnetismus. Ihm gelang es, einerseits in die Grundlagendiskussionen einzugreifen, andererseits die Aufmerksamkeit auf den einen oder anderen bisher zuwenig oder gar nicht beachteten, wesentlichen Punkt zu richten. Oft blieben seine Arbeiten jedoch theoretisch, Anwendungen für konkrete Beispiele in der Praxis fehlten.

Während seiner Zeit in St. Petersburg versuchte Ehrenfest 1909 die spezielle Relativitätstheorie zu widerlegen. Dazu stellte er das Gedankenexperiment einer starren, d. h. nicht-verformbaren, Scheibe an, die in sehr schnelle Rotation versetzt wird. Gemäß der speziellen Relativitätstheorie müsste für einen außen stehenden Beobachter der Umfang der Scheibe, der ja in Richtung der Rotation liegt, gestaucht erscheinen, während der Radius der Scheibe im rechten Winkel zur Bewegungsrichtung unverändert erscheint. Daher gilt die bekannte Kreisformel Umfang = 2 mal Pi mal Radius nicht mehr, die Scheibe muss irgendwie verkrümmt erscheinen, was ihrer Starrheit widerspricht. Ganz korrekt durchgedacht präsentiert sich die Scheibe allerdings dem Außenstehenden unverändert, dafür gilt die Kreisformel für einen auf der Scheibe sitzenden mitrotierenden Beobachter nicht mehr, er misst eine 'nicht-euklidsche Geometrie'. Tatsächlich zeigt das sogenannte Ehrenfest'sche Paradoxon nicht die Inkonsistenz der speziellen Relativitätstheorie, sondern die Unvereinbarkeit des Konzepts des starren Körpers der klassischen Physik mit ihr. Für Einstein war dieses Gedankenexperiment ein wichtiger Anstoß bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie.

Von 1913 bis 1916 formulierte Ehrenfest seine Hypothese von den adiabatischen Invarianten (Adiabatenhypothese), die ihn zum Wegbereiter der Quantenmechanik machte. Der sogenannte Adiabatensatz besagt, „Ändern sich die Parameter eines Systems (z. B. Abmessungen, Masse) oder die äußeren Bedingungen, denen ein Atom ausgesetzt ist (z. B. äußere elektromagnetische Felder) hinreichend langsam (adiabatisch), so wird das Atom hierdurch nicht zu Quantensprüngen veranlasst, sondern verbleibt in seinem anfänglich stationären Quantenzustand. Eine sich quantenhaft ändernde Größe, die bei adiabatischer Änderung der Systemparameter unverändert bleibt, heißt adiabatische Invariante.“ Dieser Satz leistete einen wichtigen Beitrag zur Quantenphysik, einschließlich der Theorie der Phasenübergänge und dem Ehrenfestschen Theorem. In seinem von ihm 1927 aufgestellten Theorem stellte er einen Zusammenhang zwischen der Newtonschen Mechanik und der Quantenphysik her. Ehrenfest zeigte, dass für große - relativ zur Welt der Atome - Abstände die Gesetze der klassischen Mechanik aus der Quantenmechanik genähert werden können. Dabei nehmen Erwartungswerte (experimentell: Mittelwerte) von Quanten-Größen („Operatoren“) die Stelle von klassischen Begriffen wie z. B. Kraft ein. Dieses Herleiten der „alten“ Theorie (klassische Mechanik) als Spezialfall der „Neuen“ (Quantenmechanik) ist wissenschaftstheoretisch ein wichtiger Schritt im Etablieren der neuen, umfassenderen Theorie.

Ehrenfest wurde 1919 zum Mitglied der königlichen Niederländischen Akademie der Künste und Wissenschaften (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen) gewählt. Heute erinnert die Ehrenfest-Sammlung im National Museum of Natural History in Leiden an ihn.

 

„Er war oft elend, tief deprimiert und uneins mit sich und der Welt“

Am 25. September 1933 setzte der an schweren Depressionen leidende Ehrenfest seinem Leben in Amsterdam ein Ende. Kurz davor hatte er auch seinen Sohn Vassily, der in einem Pflegeheim in Amsterdam lebte, durch einen Kopfschuss getötet. In einem Abschiedsbrief begründete er die Verzweiflungstat damit, dass er die Entwicklungen der modernen Physik nicht mehr nachvollziehen könne und an die Grenzen seiner eigenen Leistungskapazität gestoßen sei. Darüber hinaus konnte er die Behinderung seines Sohnes Vassily, der an dem Down-Syndrom litt, nicht verkraften. Von seiner Gattin hatte er sich ebenfalls bereits entfremdet. Aber auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 hatte ihn zutiefst schockiert.

 

Werkauswahl (siehe auch Poggendorff 5, 6): Collected scientific papers, ed. Martin J. Klein, 1959.

Literatur: Johann C. Poggendorff, Biographisch-literarisches Handwörterbuch für Mathematik, Astronomie ... 5/1, 1925, 6/1, 1936 (beide m. W.); Wolfgang Pauli, in: Naturwissenschaften 21, 1933, S. 841-843; Hendrik Anthony Kramers, in: Physica 13, 1933, S. 273-276; ders., in: Nature 132, 1933, S. 667; Salomon Wininger, Große jüdische National-Biographie 7, 1935; Encyclopaedia Judaica 6, 1971; Biografisch woordenboek van Nederland 1, 1979 (m. L.); Engelbert Broda, in: Neue Österreichische Biographie 21, 1982, S. 110-119 (m. B.); Martin J. Klein, Paul Ehrenfest. The Making of a Theoretical Physicist, 3. Aufl. 1985 (m. B.); Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien 2, 1993; Lexikon der Naturwissenschaftler, red. Doris Freudig u. a., 1996; Personenlexikon Österreich, ed. Ernst Bruckmüller, 2001; Israelitische Kultusgemeinde, Universitätsarchiv, beide Wien.

(Daniela Angetter)