Institut Österreichisches Biographisches Lexikon
und biographische Dokumentation

Biographie des Monats

Innovator und Revolverjournalist: Imre Békessy.

Am 13. Oktober 2012 jährt sich der Geburtstag des österreichisch-ungarischen Verlegers, Zeitungsherausgebers und Journalisten Imre (Emmerich) Békessy zum 125. Mal. Der Vater des Schriftstellers Hans Habe führte Anfang der 1920er-Jahre den modernen Boulevardjournalismus mit fetten Schlagzeilen, Zwischentiteln und vielen Fotos in Österreich ein, perfektionierte aber auch den damals schon seit rund hundert Jahren gepflogenen „Revolverjournalismus“ – mit Andruckfahnen kompromittierender Artikel wurden von Prominenten oder Unternehmen Inserate oder Schweigegeld erpresst.

Békessys Vater Antal war der Sohn eines Offiziers der ungarischen Revolutionsarmee Lajos Kossuths von Udvard und Kossut von 1848 namens Meyer Friedlieber, der seinen jüdischen Namen zu „Békesi“ magyarisieren ließ und seit seiner angeblichen Erhebung in den Adelsstand in den 1860er-Jahren mit der Endung „ssy“ schrieb. Antal Békessy versuchte sich als Impresario von Artisten und Künstlern, 1883 heiratete er die Wiener Schneiderin Anna Österreicher, am 13. Oktober 1887 wurde ihnen in Budapest als zweites Kind Sohn Imre geboren. Da seine Mutter Deutsch sprach, beherrschte Békessy von klein auf Deutsch so gut wie Ungarisch. Aufgrund des Bankrotts seines Vaters als Schokoladenfabrikbesitzer in Triest musste der kleine Imre ab seinem 14. Lebensjahr helfen, die Familie zu ernähren – als Lehrling in einer Mühle, Laufbursche einer Blumenhandlung, Wasserverkäufer in einem Theater und Schwerarbeiter in einer Möbelfabrik.

Anfänge als Journalist in Budapest

1905 begann er als Hilfsreporter bei der angesehenen deutschsprachigen Tageszeitung „Pester Llyod“, die sein Onkel Maurus Mezei als Chefredakteur leitete. Aufgrund eines an einem französischen Autor begangenen Plagiats wurde er jedoch bald wieder entlassen und wechselte zum ebenfalls deutschsprachigen, jedoch weniger seriösen „Neuen Pester Journal“. Aber auch dort flog er hinaus, weil er einen indischen Maharadscha „interviewt“ hatte, der in Wahrheit seinen Budapest-Besuch abgesagt hatte. 1908 schickte Békessy unter Pseudonym seinen 1905 verfassten Roman „Verfluchte Liebe“ an das Tagblatt „Magyar Nemzet“. Der Roman wurde angenommen, er selbst engagiert.

1910 heiratete Békessy nach jüdischem Ritus die ungarische Volksschullehrerin Bianca Marton (geboren am 12. August 1892 in Boglár/Balatonboglár). Das Ehepaar konvertierte nach der Hochzeit zum Calvinismus. Am 12. Februar 1911 wurde in Budapest Sohn János geboren, unter dem Pseudonym Hans Habe später ein bekannter Romancier. Im Ersten Weltkrieg diente Békessy im Gebirgsartillerieregiment Nr. 4 in Budapest, wo wegen Ehrenbeleidigung, Verleumdung, Wucher und Erpressung ein Verfahren gegen ihn angestrengt wurde. 1917 wurde Békessy als Journalist vom Kriegsdienst befreit. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade Chefredakteur der Zeitung „Esti Ujság“ geworden und hatte zudem die Wochenschrift „Tőzsdei Kurir“ gegründet. Nebenbei als Direktor einer Budapester Handelsgesellschaft tätig und in dieser Funktion der Preistreiberei und Warenanhäufung in Kriegszeiten verdächtig, bediente er sich seines Blattes, um die drohende Beschlagnahmung seiner Warenvorräte zu verhindern; er richtete heftige publizistische Angriffe gegen das Ernährungsamt – mit Erfolg: Die Warenrequisition wurde aufgehoben.

Békessys Aufstieg zum Wiener Zeitungszaren

Während der ungarischen Räterepublik leitete Békessy 1919 die Presseabteilung im Volkskommissariat für Unterricht. Nach dem Sturz Béla Kuns inhaftiert, flüchtete er vor dem „weißen Terror“ der Truppen Miklós Horthys im Frühjahr 1920 nach Wien. Mit Geld des italienischen Bankiers, Industriellen und Börsenspekulanten Camillo Castiglioni schuf Békessy dort im November 1920 die Wochenzeitung „Die Börse“ und damit einen für Österreich neuen Zeitungstyp: ein Wirtschaftsblatt, das auch der „kleine Mann“ verstehen, das aber genauso der Beeinflussung der Börsenkurse dienen sollte. Castiglioni stand auch hinter dem 1922 von Békessy gegründeten Kronos-Verlag, in dem dieser ab 2. März 1923 das täglich (außer montags) um 14 Uhr erscheinende Mittagsblatt „Die Stunde“ herausgab, das erste moderne Boulevardblatt Österreichs mit fetten Schlagzeilen, Zwischentiteln und vielen Fotos. Das linksliberale Sensationsblatt erschien in einer Auflage von 40.000 bis 60.000 Exemplaren. Ihr Chefredakteur Karl Tschuppik trat für eine demokratische Republik, eine mitteleuropäische Wirtschaftsföderation sowie eine große Koalition ein – und vehement gegen den Nationalsozialismus und einen „Anschluss“ an Deutschland auf. Im November 1924 startete Békessy mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren schließlich noch die kulturelle Wochenrevue „Die Bühne“. Zu den Mitarbeitern dieser Blätter zählten renommierte Publizisten wie Anton Kuh, der Lyriker Victor Wittner, der nachmalige Dozent an der New Yorker „New School for Social Research“ Dr. Fritz Kaufmann, der Musikwissenschaftler Dr. Paul Stefan, der Kulturjournalist und Librettist Hans Liebstöckl, der spätere Hollywood-Regisseur Billy Wilder oder der Fotograf Lothar Rübelt.

Höhe- und Endpunkt des Wiener „Revolverjournalismus“

„Börse“ und „Stunde“ (beide wurden 1938 von den Nationalsozialisten zwangsweise eingestellt) bildeten Höhe- und Endpunkt des seit den 1820er-Jahren vor allem in Wien und Budapest gepflegten „Revolverjournalismus‘“: Mit Andruckfahnen kompromittierender Artikel erpressten Anzeigenakquisiteure von Unternehmen und Prominenten als Gegenleistung für die Nichtveröffentlichung Schweigegelder oder Inserate. Es kam zu Prozessen, als erstes am 18./19. Jänner 1924 im Wiener Landesgericht: Dr. Gustav Stolper und Walther Federn, die Herausgeber der Wiener Wirtschafts-Wochenzeitung „Der Österreichische Volkswirt“ hatten Békessy wegen Ehrenbeleidigung geklagt, weil er sie in der „Stunde“ u. a. als „ehrlose und niederträchtige Schurken“ bezeichnet hatte. Der Grund für diese Angriffe war nicht zuletzt eine Leumundsnote der Polizeidirektion Wien, die Stolper und Federn zuvor im „Volkswirt“ abgedruckt hatten, in der es über Békessys publizistisches Credo hieß:

„Békessy, der als reich gilt, vertritt nach der Äußerung weiter journalistischer Kreise in Wien in seiner journalistischen Tätigkeit eine ganz eigenartige Auffassung, die von der Wiener Journalistik als mit den Standespflichten eines Journalisten nicht vereinbar angesehen wird. Diese Auffassung geht dahin, dass, ebenso wie der Rechtsanwalt oder der Arzt von seinem Klienten bzw. Patienten für geleistete Dienste honoriert werde, auch der Journalist auf Entlohnung von Seiten jener Personen Anspruch erheben könne, welchen er durch Publizieren, aber auch durch Verschweigen von Mitteilungen Dienste erwiesen habe.“

Im Ehrenbeleidigungsprozess umriss Békessy selbst seine journalistische Theorie dann folgendermaßen:

„Die Zeitung ist, was man ihnen hier vormachen wird, meine Herren Geschworenen und hoher Gerichtshof, keine moralische Institution ... Ich bin der Ansicht, dass Bankdirektoren und Banken keine Heiligen sind, ich bin der Meinung, dass diese Institutionen kritisiert werden können mit allen Mitteln. Ich bin auch der Meinung, dass eine Zeitung ein Geschäft ist, das auf der einen Seite mit reinen, auf der anderen Seite mit unreinen Händen geführt wird.“

Endete dieser Prozess noch mit einem Vergleich (Békessy nahm alle seine Anschuldigungen zurück, worauf auch Stolper und Federn ihre Klage zurückzogen), so führten in der Folge Kampagnen des Satirikers Karl Kraus in der „Fackel“ – Motto: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ – und des entlassenen „Stunde“-Redakteurs Ernst Spitz in dessen zwei Broschüren „Bekessy’s Revolver“ am 10. Juni 1926 zu Békessys Flucht nach Paris. Kraus setzte ihm im Drama „Die Unüberwindlichen“ (in der Person des Chefredakteurs Barkassy) ebenso ein literarisches Denkmal (1928) wie Stephan Grossmann im Roman „Chefredakteur Roth führt Krieg“ und Békessys Sohn Hans Habe 1938 im Roman „Eine Zeit bricht zusammen“.

Im Exil: Ungarn – Hollywood und zurück

1927 übernahm Békessy in Budapest wieder den einst von ihm gegründeten „Tőzsdei Kurir“. Ein Jahr später hob er die volkswirtschaftliche Monatsschrift „Ost-Kurir“ aus der Taufe, deren Erfolg ihm den Kauf der Montagszeitung „Reggeli Újság“ ermöglichte. Besonders in letzterer pflegte er seine Erpressungstaktik weiter, bis er 1935 als Herausgeber zurücktrat und angesehener Mitarbeiter der liberalen Tageszeitung „Újság“ wurde. 1939 emigrierte Békessy in die Schweiz, 1940 nach Hollywood, wo zeitweilig auch sein Sohn Hans Habe arbeitete. In New York veröffentlichte er 1946 unter dem Namen Emery Békessy den englischsprachigen Bibel-Roman „Barabbas“. 1947 kehrte das Ehepaar gegen den Rat seines Sohnes Hans Habe nach Budapest zurück. Am 15. März 1951 beging Békessy, ein Freund des 1949 von den Kommunisten als „Titoist“ hingerichteten ungarischen Innenministers László Rajk, mit seiner Frau – nach bereits etlichen fehlgeschlagenen Versuchen in den vorangegangenen Jahren – Selbstmord.

Literatur: M. Életr. Lex.; Anton Kutschera, „Die Stunde“ unter der Leitung ihres Herausgebers E. B., phil. Diss. Wien, 1952; Hans Habe, Ich stelle mich, 1954, passim; Peter Kirchweger, Inflations- und Revolverpresse in der Ersten Österreichischen Republik. E. B. in Wien 1920 bis 1926, grund- und integrativwiss. Diss. Wien, 1985 (m. L.); Peter Pelinka – Manfred Scheuch, 100 Jahre AZ, 1989, S. 77–79; Wolfgang Duchkowitsch, Nicht immer nur B.!, in: Neohelicon 24/1, 1997, S. 197–202; Andreas Hutter – Klaus Kamolz, Billie Wilder. Eine europäische Karriere, 1998, bes. S. 26–31 und 74–83; Birgit Virginia Lanz, Das Phänomen „E. B.“ in der Fackel, geistes- und kulturwiss. DA Wien, 2002, bes. S. 32–36; Andreas Hutter, Rasierklingen im Kopf. Ernst Spitz – Literat, Journalist, Aufklärer, 2005, s. Reg.; Susanne Swantje Falk, Hans Habe – Journalist und Schriftsteller, phil. Diss. Wien, 2008, S. 36–58 (m. B.); Armin Thurnher, „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“, in: Falter, 2008, Nr. 16, S. 21f.; Friederike Kraus, „Wiener Originale der Zwischenkriegszeit“, phil. DA Wien, 2008, S. 31f.; Hermine Adelheid Mayr, Hans Habe als Kolumnist der Zeitungen des Axel Springer Verlages, phil. DA Wien, 2009, S. 16–18.

(Andreas Hutter)


Für die Überlassung sowie Erlaubnis zur Veröffentlichung des Bildmaterials danken wir dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien), der Hans Habe Stiftung (Lachen, CH) sowie Herrn Doktor Andreas Hutter (Linz) sehr herzlich.