Institut Österreichisches Biographisches Lexikon
und biographische Dokumentation

Biographie des Monats

Ich, Anna Csillag – ein k. k. Marketingstar.

Zeitungsleserinnen und -leser des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts werden wohl kaum an ihr vorbeigekommen sein, und noch heute ist sie vielen ein Begriff: Eine Frauengestalt, deren dunkles, bodenlanges Haar sofort ins Auge sticht, preist per Inserat die Vorzüge ihrer selbsterfundenen Pomade an, deren Gebrauch neben kräftigem Wuchs von Kopf- und Barthaar auch Schutz vor vorzeitigem Ergrauen verspricht. Wer aber war Anna Csillag mit dem 185 Zentimeter langen „Riesen-Loreley-Haar“? Ihr soll – mit einem Augenzwinkern – die Biographie des Monats April gewidmet sein.

 

Anna Csillag, zu deutsch Stern, war gewissermaßen ein „Star“ der Reklame ihrer Zeit. In der erhobenen Rechten einen Zweig mit Blüten haltend, das wallende Haar teils knöchel-, teils bodenlang, war ihr Bild Jahrzehnte hindurch im Anzeigenteil zahlreicher Zeitungen zu finden. Mit ihrem „185 Centimeter langen Riesen-Loreley-Haar“ trat Anna Csillag als ihr eigenes Testimonial auf und bewarb ihre Haarpflegeprodukte monarchieweit in deutscher, ungarischer, polnischer, tschechischer, slowenischer und russischer Sprache. Anzeigen mit dem einprägsamen Sujet finden sich in den Wiener Blättern ebenso wie etwa in der „Laibacher Zeitung“, im „Kurjer Łódzki“ oder in der „Vasárnapi Ujság“, ja selbst im finnischen „Hufvudstadsbladet“ schaltete die Firma Inserate. Diese haben ihre Spuren im Bewusstsein vieler Zeitgenossen hinterlassen und Anna Csillag zu nahezu sprichwörtlicher Bekanntheit verholfen.

 

Die Unternehmerin Anna Csillag

Obwohl sich um Anna Csillag und ihr Loreley-Haar legendenhafte Züge ranken, handelt es sich doch um keine bloß zu Werbezwecken erfundene Kunstfigur. Anna Csillag existierte als Unternehmerin tatsächlich, auch wenn über wenige Lebensdaten hinaus nichts über ihr Umfeld und ihre Person bekannt ist. Anna Csillag wurde 1852 nicht, wie in manchen Inseraten behauptet, in „Karlowitz in Mähren“, sondern im ungarischen Zalaegerszeg als Tochter von Mór Altstädter und Háni Rechnitzer geboren. In den Wiener Archiven lassen sich ihre Spuren ab 1894 verfolgen, als die „Parfumeriewarenverschleißerin“ um Eintragung in das Handelsregister ansuchte. Aber schon 1899 legte sie ihr Gewerbe als Parfümerieerzeugerin zurück und überließ die Firma ihrem Bruder Bernhard Altstädter (geb. Zalaegerszeg, 19. 8. 1858; gest. Wien, 25. 11. 1925), der sie bis zu seinem Tod leitete.

Die eigentliche Unternehmensgründung reicht jedoch, einem Briefkopf der Firma zufolge, bis ins Jahr 1876 zurück und erfolgte wahrscheinlich in Ungarn (Inserate aus den 1880er-Jahren nennen eine Budapester Adresse). Im Lauf der Jahrzehnte gab es neben dem Wiener Firmensitz und diversen Zweigstellen innerhalb der Habsburger-Monarchie auch eine von Anna Csillag selbst geführte Parfümeriefabrik in Berlin. In den Berliner Adressbüchern scheint sie 1889–92 als Inhaberin der gleichnamigen Fabrik auf – zunächst an derselben Adresse, an der zuvor ein gewisser S. Csillag eine „Ungarweinhandlung und Ausschank“ betrieben hatte. Die Firma existierte dann unter wechselnden Inhabern und Anschriften, bis 1906–15 neuerlich Anna Csillag als Inhaberin aufscheint. Ihr letzter Adressbucheintrag stammt aus dem Jahr 1917, während sich noch spätere Einträge im gedruckten Handelsregister finden. Über die 1924 angemeldete Anna Csillag GmbH (im Brünner „Tagesboten“ als Gesellschaft mit berühmten Haaren bezeichnet) wurde 1927 ein Konkursverfahren eröffnet. Danach verliert sich ihre Spur bis zum November 1934, als Anna Csillag die Firma in das Handelsregister ihrer Geburtsstadt eintragen ließ. In Zalaegerszeg starb sie schließlich auch 87-jährig als Witwe von Samu Csillag am 5. Jänner 1940.

Reklame und Werbestrategie

Der Journalist und Maler Rudolf Cronau zitiert in seinem „Buch der Reklame“ (1887) einen Pariser Geschäftsmann, der mit der Häufigkeit von Inseraten folgende Erfahrung gemacht hatte: „Erste Insertion – man übersieht sie. Zweite Insertion – man bemerkt sie, aber man liest sie nicht. Dritte Insertion – man liest sie, denkt aber nichts dabei. Vierte Insertion – man interessiert sich für den Preis. Fünfte Insertion – man spricht darüber mit seiner Frau. Sechste Insertion – man möchte wohl einen Versuch machen. Siebente Insertion – man kauft.“ Den Aspekt der Häufigkeit berücksichtigte Anna Csillags Werbekampagne in ganz besonderem Ausmaß. Bild und Text ihrer weithin bekannten Annoncen waren von hohem Wiedererkennungswert, in allen Sprachen relativ gleichförmig gehalten und stets vom unerschütterlichen „Ich, Anna Csillag“ („Já Anna Csillagová“, „Én Csillag Anna“ etc.) eingeleitet. Der Kerntext vermeldete, dass die Trägerin ihr Haar „infolge 14monatlichen Gebrauches“ ihrer selbsterfundenen Pomade erhalten habe, eines anerkannten Mittels zur Pflege des Haars, zur Förderung seines Wachstums und zur Stärkung des Haarbodens, das bei Herren einen kräftigen Bartwuchs befördere und vor frühzeitigem Ergrauen bewahre (der Hinweis, dass sich damit auch Haarausfall verhindern ließe, wurde später aufgegeben). Dieser Standardtext wurde verschiedentlich erweitert, etwa durch Abbildung von Ehrendiplomen, Anerkennungsschreiben, Vorher-Nachher-Bildvergleiche oder den Hinweis, dass Anna Csillags Haar infolge seiner Schwere bereits drei Flechten ausgeschnitten werden mussten. Kulturelle Prägungen wurden insofern berücksichtigt, als in polnischsprachigen Inseraten die Wassernymphe Rusalka die Stelle der Lorelei einnimmt. Durch den Abdruck von Bestellwünschen und Dankesworten erweckte die Firma den Eindruck, auch Prinzessinnen, Gräfinnen und Generalkonsulsgattinen zu ihren Kunden zu zählen. Selbst das „k. u. k. Oesterreichisch-Ungarische Konsulat, Riga“ wird als Besteller von vier Tiegeln der „vorzüglichen Pomade“ genannt. Für die Wirksamkeit verbürgt sich u. a. ein schlesischer Kurarzt, der um Zusendung einer Schachtel der „Wunder wirkenden Haarpomade“ ersucht.

Der junge Adolf Hitler soll, wie Josef Greiner in seinem Buch „Das Ende des Hitler-Mythos“ (1947) behauptet, vom Reklamegenie Anna Csillag begeistert gewesen sein. Greiner zufolge, der damals ebenfalls im Männerwohnheim in der Meldemannstraße lebte, fand Hitler heraus, dass es sich bei den angeblichen Dankesbriefschreibern um bereits Verstorbene handelte. Auch der Hitler-Biograph Konrad Heiden berichtete, Hitler wollte die Insassen des Männerheims zu einem „Reklameinstitut“ zusammenfassen. Da der Schwindel Anna Csillags viel Geld einbringe, müsse man etwas Ähnliches ersinnen.

Produktpalette

Über die zum Versand „nach allen Welttheilen“ angebotenen Erzeugnisse der Firma Csillag unterrichten nicht nur die Inserate, sondern auch chemische Analysen, der die Mittel wiederholt unterzogen wurden. Aufschluss über deren Zusammensetzung gab etwa das „Chemisch-technische Repertorium“ für 1890 unter der Rubrik „Geheimmittel, Verfälschungen von Handelsproducten etc.“ Die Analyse der Bartwuchspomade ergab, dass es sich um gewöhnliche Fettpomade mit Spuren von Bergamottöl, Perubalsam und ähnlichen Zusätzen handelte, während der „Thee zum Kopfwaschen“ lediglich aus Kamillenblüten bestand. Zum selben Ergebnis kam eine Untersuchung durch das Pharmazeutische Institut der Universität Berlin 1906, das die in der Berliner Fabrik erzeugte Haarpomade, die Toilettenseife und den Anna-Csillag-Tee prüfte. Dem Bericht ist unter anderem zu entnehmen, dass die Pomade von weißgrauer Farbe und schmalzartiger Konsistenz war, vorwiegend nach Bergamottöl roch und in dünner Schicht etwas körnig erschien. Bei dem als „beste Seife der Welt“ beworbenen Erzeugnis handelte es sich hingegen um eine pilierte, sehr harte, braunrote Toilettenseife, und im Tee fanden die Chemiker auch 1906 lediglich Flores Chamomillae sine calycibus. Eine Abkochung davon sollte unter Verwendung der genannten Seife als Kopfwaschwasser dienen. Vertrieben wurden aber auch verschiedene Kämme und Bürsten, etwa Anna Csillags unzerbrechlicher Loreley-Kamm.

Die Wiener Firmengeschichte

Der Wiener Fimensitz befand sich ursprünglich in der Seilergasse, wechselte später in der Innenstadt mehrfach den Standort und befand sich zuletzt bis zur „Arisierung“ am Kohlmarkt 11, im sogenannten Michaelerhaus.

Nach dem Tod von Annas Bruder Bernhard 1925 führte dessen Frau Malvine, geb. Kreisler (geb. Csurgo, Ungarn, 28. 12. 1867; gest. Wien, 18. 3. 1940), eine Kaufmannstochter, die mittlerweile verschuldete Firma weiter. Die Söhne Georg(e) und Andreas fungierten, zu verschiedenen Zeitpunkten, als Gesellschafter. Als 1931 ein Ausgleich angemeldet werden musste, wurde das in der „Neuen Freien Presse“ mit den Worten „Loreley im Ausgleich“ und unter Hinweis auf den veränderten Zeitgeschmack kommentiert („Loreley läßt sich einen Bubikopf schneiden ...“).

In den Jahren des Nationalsozialismus leitete der Fabrikant Franz Widhalm die Anfang 1939 „arisierte“ Firma. Das Briefpapier aus diesem Jahr weist das Unternehmen als „Diagnostisches Haaruntersuchungsinstitut und Laboratorium“ aus.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die chemische Laborantin Martha Gerö als öffentliche Verwalterin eingesetzt, doch 1948 ging das im Krieg stark beschädigte Unternehmen wieder auf Franz Widhalm über, mit dem die Erben Malvine Altstädters im Zuge eines Rückstellungsverfahrens 1951 einen Vergleich schlossen. 1978 übernahm die Geschäftsfrau Rosa Reinegger, ab 1979 verheiratete Widhalm, die Leitung. Sie führte die Firma bis zu deren endgültiger Löschung im Mai 1982.

 

Anna Csillag in der Kunst

Wie sehr die Figur Anna Csillag im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert gewesen sein muss, verdeutlichen Beispiele aus den Bereichen Literatur, bildende Kunst und neuerdings sogar der Musik. Eine Reihe von Anspielungen in literarischen beziehungsweise satirischen Texten zeigt, dass deren Verfasser mit breitem Verständnis rechnen konnten. So lassen Carl Lindau und Julius Wilhelm in ihrer Parodie „Die 300 Tage der Rose Berndt“ (1904) die Titelfigur den Maschinisten und Beau Streckmann als „Anna Csillag mit dem 120 Centimeter langen Loreleybart“ beschimpfen. Der Fleischhauer Bockerer hingegen greift in Peter Preses’ und Ulrich Bechers gleichnamigen Theaterstück (1946) zur Charakterisierung der Haare der „Annerl-Tant“ auf einen Vergleich zurück: Besagte Tante stach mit einer Haarlänge von zwei Metern das bekannte Vorbild aus, sodass sich Anna Csillag „mit ihrem Riesenloreleyhaar im Michaeler-Durchhaus versteckn“ könne. György Sebestyén ließ sie in „Thennberg oder Versuch einer Heimkehr“ (1969) ebenso einen Gedanken lang Revue passieren wie einst Karl Kraus in seiner Satire „Die Welt der Plakate“ (1909), der in sein Panoptikum von Reklamefiguren auch sie einbezieht: „Seht, seht, wer bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst, ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen; sie ruft: Ich Anna ... Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines Wagens, dessen Lenker mir zuruft: ‚Sie fahren gut, wenn Sie Feigenkaffee –‛“. Im literarischen Scherz „Roman der zwölf“ (1909) wiederum, einem Gemeinschaftswerk bekannter Schriftsteller, steht der Protagonist im Verdacht, zuweilen die Notwendigkeit zu empfinden, „sich das hundertundfünfundsiebzig [!] Zentimeter lange Riesenhaar der Anna Csillag um den Hals zu wickeln, um sich gegen Bronchialkatarrh zu schützen“. Darüber hinaus finden sich Beispiele bei russischen, polnischen und ungarischen Autoren.

In seinem Gedicht „À la recherche du temps perdu“ (1933) wurde Anna Csillag dem aus Galizien stammenden Lyriker Józef Wittlin zur Zeugin seiner verlorenen Kindheit:

 

 

Auch die ungarische Künstlerin Margit Anna (1913–1991) ließ sich 1977 zu einem Ölgemälde mit dem Titel „Én Csillag Anna“ (Ich, Anna Csillag) inspirieren. Dass Anna Csillag mit ihrem (physiologisch unmöglichen) 185-cm-Haar aber bis in die Gegenwart fasziniert, zeigt das von der polnischen Sängerin Anna Szałapak interpretierte Lied Anna Csillag aus dem Album „Anna Szałapak w Trójce“, 2005.

 

 

L.: Neue Freie Presse, 27. 11. 1925 (Parte Bernhard Altstädter), 8. 5. 1931; Tagesbote (Brünn), 23. 10. 1927; R. Cronau, Das Buch der Reklame, 1887, 1. Abteilung, S. 67; Chemisch-technisches Repertorium, ed. E. Jacobsen, 1890, 1. Halbjahr, 1. Hälfte, 1891, S. 342; Arbeiten aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlin, ed. H. Thoms, 4, 1907, S. 95f.; K. Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, 1936, Neuausgabe 2007, S. 38; J. Greiner, Das Ende des Hitler-Mythos, 1947, S. 39ff.; Gy. Sebestyén, Thennberg oder Versuch einer Heimkehr, 1969, S. 46; K. Kraus, Die Welt der Plakate, in: Ausgewählte Werke 1, Grimassen, 1971, S. 236; P. Preses – U. Becher, Der Bockerer, in: Wiener Volksstücke, 1971, S. 277–395, hier S. 361; H. Bahr u. a., Der Roman der zwölf. Ein literarischer Scherz aus dem Jahre 1909, 1992, S. 70; B. Schulz, Die Mannequins und andere Erzählungen, 2. Aufl. 1994, S. 87–103; D. Grieser, Der erste Walzer, 2007, S. 203–206; C. Lindau – J. Wilhelm, „Die 300 Tage der Rose Berndt“ oder: Gerhart Hauptmann im stillen Gaesschen, in: Wien parodiert. Theatertexte um 1900, ed. N. Roßbach, 2007, S. 173–191, hier S. 176; Großer Auftritt. Mode der Ringstraßenzeit, ed. R. Karner – M. Lindinger, 2009, S. 39; Archiv der Wirtschaftskammer Österreich, IKG, Wiener Stadt- und Landesarchiv, alle Wien; Landesarchiv, Berlin, D; Zala Megyei Levéltár, Zalaegerszeg, H.

(Eva Offenthaler)


Wir danken Frau Ibolya Foki vom Archiv des Komitats Zala und Frau Ute Strauß vom Landesarchiv Berlin für ihre Recherchen sowie dem Team von www.arcadja.com für die Erlaubnis, die Grafik „Én Csillag Anna“ zu verwenden!