20.03.2023 | Neuerscheinung

„Österreich profitiert von neuem Humankapital“

„Migration und Arbeit“ heißt ein neues Buch im Verlag der ÖAW. Es beleuchtet die komplexen Zusammenhänge zwischen Politik, öffentlicher Meinung, Migration und Wirtschaft. Autorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Gudrun Biffl erzählt im Gespräch, warum sie die aktuelle Situation in Österreich für nicht zukunftsträchtig hält.

Migration werde in Österreich in erster Linie als Problem gesehen, statt die positiven Aspekte hervorzuheben, erklärt Arbeitsmarktökonomin Gudrun Biffl. Sie plädiert für einen rationaleren Diskurs, denn: „Österreich profitiert von neuem Humankapital.“ © Adobe Stock

Österreich ist seit den 1960er-Jahren ein Zielland für Arbeitsmigration. Ein neues Buch im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beleuchtet nun wissenschaftliche Debatten und Forschungserkenntnisse zu Migration und Arbeit in Österreich im internationalen Vergleich.

Es argumentiert, warum der Arbeitsmarkt Migrant:innen braucht, erklärt, woher sie kommen, wo sie Arbeit finden und welche Rolle die Sozialpartnerschaft und das Wohlfahrtsmodell bei der Integration ins Erwerbsleben spielen - und es entwirft Szenarien für mögliche zukünftige Entwicklungen der Arbeitsmigration. Autorin Gudrun Biffl gibt im Interview erste Einblicke in das Buch.

VERSCHIEDENE MIGRATIONSERZÄHLUNGEN

Unterscheiden sich die Einstellungen zum Thema Migration in Österreich von anderen Ländern?

Gudrun Biffl: Migration wird hierzulande oft problematisiert und damit schießen wir uns selbst ins Knie. Es macht einen großen Unterschied, wenn man sich selbst als Einwanderungsland definiert, so wie etwa Australien, Kanada, Neuseeland oder die USA. In diesen Ländern werden oft die positiven Aspekte von Migration hervorgehoben und die Geschichte, die erzählt wird, dreht sich um Fortschritt, Bildung und den Wettbewerb um die besten Köpfe. Das hat auch Auswirkungen auf die Situation in den Herkunftsländern der Migrant:innen, weil Menschen dorthin gehen, wo sie sich aufgenommen fühlen. Sie legen sich sogar Strategien zurecht, Bildungsabschlüsse zu erlangen, die ihnen die Auswanderung in Einwanderungsländer einfacher machen.

Es müsste allen bewusst sein, dass eine Zukunft, die auf Hightech basiert und eine hohe Versorgungsdichte bietet, ohne Migration nicht möglich ist.

Was bringt Migration den Zielländern?

Biffl: Es müsste allen bewusst sein, dass eine Zukunft, die auf Hightech basiert und eine hohe Versorgungsdichte bietet, ohne Migration nicht möglich ist. Global gesehen sieht man das etwa in der Pflege, wo die Systeme ohne Fachkräfte aus den Philippinen oder Osteuropa schon heute nicht mehr tragfähig wären. Wir haben mittlerweile weltweite Versorgungsnetzwerke, die auf Arbeitsteilung und Migration basieren. Österreich profitiert von neuem Humankapital, steigender Wirtschaftsleistung, Beiträgen zum Sozialsystem und von der Internationalisierung. Die kulturelle Vielfalt sorgt auch dafür, dass das Angebot an Speisen und anderen kulturellen Gütern stetig wächst.

Das wird in Österreich selten öffentlich gesagt.

Biffl: Die Idee, sich von diesen Systemen abkoppeln zu können, ist extrem kurzsichtig, aber gerade in Österreich weit verbreitet. Andere Länder, etwa auch China und Russland, entwickeln stattdessen langfristige Strategien und fördern bestimmte Schlüsselqualifikationen und Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen aus afrikanischen Ländern mit Stipendien, um den zukünftigen Nachschub an Fachkräften abzusichern, beziehungsweise nachhaltige Kooperationen mit den Herkunftsländern sicherzustellen. Investitionen in die Menschen vor Ort und in die Infrastruktur verbessern nämlich das Image der investierenden Länder in den Regionen. Österreich ist hingegen zögerlich bei der Aufnahme von Menschen aus Drittstaaten, wie aus der geringen Zahl von Rot-Weiß-Rot-Karten ersichtlich ist, und die hohen Hürden für das Erlangen einer Staatsbürgerschaft sind für potenzielle Einwanderer:innen abschreckend. 

Woher kommt die Ablehnung der Migration?

Biffl: In Österreich ist die Ansicht, dass alle Migrant:innen kommen, um unser Sozialsystem auszunutzen, weit verbreitet. Und die Politik stützt diese Vorurteile noch. Dass Migrant:innen das System mit ihren Beiträgen stützen, wird verschwiegen. Unser Alltag wird in vielen Bereichen von Migrant:innen aufrechterhalten, zum Beispiel von den Reinigungskräften, die unsere Spitäler, Firmen und Haushalte putzen. Das passiert oft unter prekären Verhältnissen und in Schwarzarbeit. Dieses Ausnutzen migrantischer Arbeitskräfte wird aber nicht als Problem gesehen, sondern gilt als Kavaliersdelikt. Statt etwas gegen die prekären Verhältnisse zu unternehmen, werden Zuwanderer:innen von der Politik marginalisiert und zu Sündenböcken gemacht.

GROSSBRITANNIEN FEHLEN SCHLÜSSELKRÄFTE

Passiert das auch in anderen europäischen Ländern?

Biffl: Ja, zum Beispiel in Großbritannien im Vorfeld der Brexit-Entscheidung. Wenn die Politik falsche Erzählungen verbreitet, fallen in der Bevölkerung Tabus, denn was die Politiker:innen sagen, darf man am Stammtisch auch von sich geben. In Großbritannien hat die damalige Innenministerin gegen Migrant:innen aus Europa und im besonderen aus Polen gewettert, die angeblich das britische Sozialsystem ausnützen würden. Nach dem Brexit fehlen jetzt Schlüsselkräfte im Gesundheitssystem, in vielen Handwerksberufen und im Transportwesen, um nur einige zu nennen.

Wie konnten sich solche falschen Erzählungen in der Politik etablieren?

Biffl: Der Wettbewerb unter den politischen Parteien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zugespitzt. In den 60er und 70er-Jahren, als die Nazivergangenheit aufgearbeitet wurde, gab es den Konsens, dass Angriffe auf Minderheiten in der Politik nichts zu suchen hatten. Die Sozialpartnerschaft hat politische Extreme dann lange verhindert, aber sie hat im Zuge des EU-Beitritts an Bedeutung verloren. Die erste schwarz-blaue Koalition hat dann mit einem Krieg gegen die Fakten begonnen, zum Beispiel indem versucht wurde, das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO, das faktenbasierte Forschung betreibt, zu marginalisieren. Damit öffnete sich eine Kluft zwischen Wissenschaft und Politik, die fatal ist, denn nur wenn die Fakten auf dem Tisch liegen und ernst genommen werden, kann Missbrauch verhindert werden.

Jedes Migrationsregime hat zusätzlich zur Arbeitsmigration von hochqualifizierten Arbeitskräften auch eine humanitäre Schiene.

Auch klassische Einwanderungsländer wie Australien oder die USA haben mittlerweile strikte Regeln für Immigration.

Biffl: Diese Länder nehmen aber weiterhin Quotenflüchtlinge auf, das heißt besonders vulnerable Personengruppen aus Flüchtlingslagern im Rahmen von Resettlement-Programmen, zum Beispiel aus Syrien, Darfur oder Afghanistan. Jedes Migrationsregime hat zusätzlich zur Arbeitsmigration von hochqualifizierten Arbeitskräften auch eine humanitäre Schiene. Durch bilaterale Zusammenarbeit mit Ländern des globalen Südens können zudem dort Bildungsangebote aufgebaut werden, die für beide Seiten nützlich sind. Dazu muss man aber auch passende Partnerländer wählen. Deutschland wollte sein Lehrlingsmodell nach Tunesien exportieren und musste feststellen, dass die kombinierte Wirtschafts- und Bildungsinitiative nicht bei den einfachen Menschen in den Dörfern ankam, nicht zuletzt, weil diese kaum im formellen Sektor arbeiten. Für funktionierende Partnerschaften müssten NGOs, Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten. Darüber hinaus müssten demokratieförderliche Institutionen wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen etabliert werden, die auch die Interessen der informellen Wirtschaft wahrnehmen. Dafür sind allerdings derzeit die Interessen der diversen politischen Akteure noch zu unterschiedlich.

Gibt es in Österreich entsprechende Initiativen?

Biffl: In Österreich haben wir einen ganz anderen Diskurs. Die politischen Parteien schaukeln sich in ihrer Anti-Migrations-Rhetorik gegenseitig hoch und differenzieren kaum zwischen den verschiedenen Gruppen von Migrant:innen. Das spiegelt sich dann auch in der öffentlichen Meinung wider. Obschon Arbeitskräfte zunehmend knapp werden, ist die Stimmung gegen Migrant:innen so negativ, dass dadurch die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften erschwert wird. Mit offener Ausländerfeindlichkeit kann man keine neuen Bevölkerungsgruppen anlocken, die die fortschreitende Abwanderung junger Menschen ausgleichen könnten. In der Politik ist die Migrationsfeindlichkeit inzwischen nicht mehr nur bei Schwarz und Blau vertreten, sondern mittlerweile auch in Teilen der SPÖ. Das führt dazu, dass bestimmte Gruppen von Migrant:innen unter sich bleiben, weil sie sich nicht angenommen fühlen.

Welche Gruppen werden besonders angegriffen?

Biffl: Auch in Österreich spielt die Historie bei der Bewertung einzelner Gruppen eine Rolle. Für Zuwanderer aus Zentral- und Osteuropa gibt es viel Verständnis und Akzeptanz, nicht zuletzt, weil man familiäre Anknüpfungspunkte hat, die in die Zeit der Monarchie zurückreichen. Aber auch Personen aus dem vormaligen Jugoslawien werden kaum diskriminiert. Viel schwieriger ist es für Personen aus der Türkei in Österreich ohne Vorbehalt akzeptiert zu werden. Aber von allen Migrationsgruppen sind Menschen aus Afrika am stärksten mit Diskriminierungserfahrungen konfrontiert.

Obschon Arbeitskräfte zunehmend knapp werden, ist die Stimmung gegen Migrant:innen so negativ, dass dadurch die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften erschwert wird.

MEHR RATIONALITÄT NOTWENDIG

Was kann man tun, um das Thema sachlich anzugehen?

Biffl: Im Rechtssystem gibt es sicher Reformbedarf, vor allem beim Umgang mit Asyl und Flüchtlingen. Das müsste klar von anderen Formen der Migration getrennt diskutiert und für alle Gruppen fair gestaltet werden. Die Ungleichheit ist momentan besonders deutlich, wenn man die Situation von Asylwerber:innen aus Syrien mit der von Ukraine-Flüchtlingen vergleicht. Die Diskriminierung wird sicher nicht verschwinden, auch nicht durch Gesetze, aber die politische Rhetorik kann schon dazu beitragen, das Problem zu mindern. Sichtbarkeit und Repräsentation in der Öffentlichkeit sind für Minderheiten ebenfalls enorm wichtig, und vielleicht müssen wir hier tatsächlich über Quoten nachdenken. 

Wie sieht es mit Arbeitsmigration innerhalb der EU aus?

Biffl: Hier entwickelt sich die Entsendung zunehmend zum Problem, was von der Politik aber kaum beachtet wird. Denn die Entsendung unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Migration. Erstere begründet, im Gegensatz zur Migration, kein Beschäftigungsverhältnis in Österreich. Es wird allerdings eine Dienstleistung erbracht, etwa die Montage von Fertigteilhäusern, die im Ausland gebaut wurden, die den Wettbewerb erhöht und vor allem lokale Klein- und Mittelunternehmen unter Druck setzt. Das schafft eine neue Situation, denn unser Gesundheitssystem wird zu 70 Prozent aus den Abgaben von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert. Firmen aus dem Ausland, die hier im großen Stil Aufträge übernehmen, zahlen nicht in unser Sozialversicherungssystem ein. Dieses Geld fehlt dann und muss durch höhere Steuern ausgeglichen werden. Das macht am Ende die vieldiskutierte Harmonisierung der europäischen Sozialsysteme notwendig.

Könnte eine solche Harmonisierung das Problem beheben?

Biffl: Eine europäische Lohnpolitik mit gemeinsamen Mindeststandards in Kombination mit Anpassungen der Sozialsysteme könnten Teile einer Problemlösung sein. Zusätzlich braucht es aber Investitionen von Ländern wie Deutschland und Österreich in Zentral- und Osteuropa, um den wirtschaftlichen Aufholprozess dieser Regionen zu beschleunigen. Das wird im Zuge der in den kommenden Jahren zu erwartenden Deglobalisierung besonders relevant. Die Verbindungen zwischen Migration, Politik und Wirtschaft sind enorm komplex und können mitunter unerwartete, weitreichende Konsequenzen haben. 

 

AUF EINEN BLICK

Gudrun Biffl promovierte in Ökonomie an der University of New-castle/Tyne in Großbritannien. Von 1975 bis 2009 war sie Wirtschaftsforscherin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). 1993 habilitierte sie sich an der Wirtschaftsuniversität Wien. 2008 übernahm sie den Lehrstuhl für Migrationsforschung an der Donau-Universität Krems, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 2017 tätig war.

Das Buch"Migration und Arbeit“ von Gudrun Biffl unter Mitarbeit von Peter Huber ist im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erschienen.
DOI: https://doi.org/10.1553/978OEAW93265

Die Buchpräsentation findet am 20. März 2023 um 18 Uhr an der Universität Wien (Aula am Campus, Spitalgasse 2, Hof 1.11, 1090 Wien) statt. Eintritt frei.

Zur Anmeldung