09.11.2020 | Lockdown II

Junge besonders von sozialer Isolierung betroffen

Angesichts rasant steigender Zahlen von Neuinfektionen wurde in Österreich ein zweiter Lockdown verhängt. Wie sich physische Distanz und Zukunftsängste auf die psychische Gesundheit auswirken und warum es junge Erwachsene besonders hart trifft, erklärt Psychologe und ÖAW-Mitglied Claus Lamm.

Soziale Isolation und Zukunftsangst betreffen in der Coronakrise vor allem junge Menschen.
Soziale Isolation und Zukunftsangst betreffen in der Coronakrise vor allem junge Menschen. © Unsplash/Gabriella Clare Marino

Die Kurve an Neuinfektionen mit dem Coronavirus zeigt steil nach oben. Viele europäische Länder haben daher erneut einen Lockdown eingeführt – auch Österreich. Welche Folgen hat das für das gesellschaftliche Zusammenleben? Welche Bevölkerungsgruppen sind vom Lockdown besonders betroffen? Und: Lässt sich aus dem Lockdown I etwas für den Lockdown II lernen?

„Insbesondere junge Erwachsene waren während des Lockdowns im Frühjahr besonders negativ von der sozialen Isolierung betroffen“, sagt Psychologe Claus Lamm. „Eine Erklärung dafür ist, dass sie noch nicht so stark in das soziale Netzwerk integriert sind wie ältere Personen“, so Lamm, der am Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der Universität Wien forscht und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist. Aus seinen Studien zur ersten Lockdownphase geht hervor, wie unsichere Zukunftsaussichten und finanzielle Sorgen an den Nerven besonders der jungen Erwachsenen zerren und Stress erzeugen.

Herr Lamm, coronabedingt ist eine Art Biedermeierphase zu beobachten: Jeder igelt sich ein und zieht sich in die eigenen vier Wände zurück. Wie lange lässt sich das durchhalten?

Claus Lamm: Wie jede Anpassungsreaktion bietet ein solcher Rückzug Chancen und Risiken. Eine Chance ist natürlich, sich wieder auf die engere Familie zu konzentrieren, also auf das was mir hoffentlich nahe ist. Das Risiko ist, dass man „sozial verarmt“, weil eben die Außenkontakte weniger werden. Diese brauchen wir aber in gewissem Sinne, denn wenn wir an die großen Herausforderungen derzeit denken, dann braucht es die Zusammenarbeit in sozialen Verbänden. Größere soziale Bewegungen bis hin zu Demonstrationen brauchen etwa die große Masse, das Zusammenkommen von Menschen die eine Idee eint, die sich aber sonst oft noch nie begegnet sind. Dafür ist der Rückzug natürlich hinderlich. Insofern ist es erstaunlich positiv, dass es nach dem ersten Lockdown auch wieder Fridays-for-Future-Aktionen gegeben hat.

Das Risiko ist, dass man „sozial verarmt“, weil die Außenkontakte weniger werden. Diese brauchen wir aber, wenn wir an die großen Herausforderungen derzeit denken.

Homeoffice, Online-Shopping, Streaming-Dienste: Bekommt man überhaupt noch mit, wie es anderen da draußen geht?

Lamm: Der direkte soziale Austausch ist nicht der einzige Kanal, mit dem man herausfindet, was in der Welt passiert. Wir konsumieren Medien und haben die Möglichkeit über soziale Medien bzw. Telefonie und Videotelefonie den Kontakt zu halten. Aber: Der direkte Austausch ermöglicht einem etwas, das dieser digitale Austausch nicht schafft: Das Übertragen von körperlichen und mehr intuitiv wahrnehmbaren Informationen.

Stichwort Distance Learning. Wie geht es den Jungen mit der physischen Distanz?

Lamm: Es mag für Studierende bequemer sein, zu Hause zu sitzen und den Vorlesungen online zu folgen. Aber wir wissen gleichzeitig, dass der fehlende direkte Kontakt mit anderen Studierenden und den Lehrenden auch negative Effekte hat: Das Lernen ist weniger vertiefend. Die Vernetzung und die Kontakte zu anderen Studierenden fallen schwerer. Oft fehlt die Tagesstruktur. Es ist ein Faktum, dass neu ankommende Studierende – aus den Bundesländern oder ja sogar aus anderen Ländern – leichter vereinsamen. Denn: Neue Kontakte an einem fremden Ort lernt man als Student/in primär über die Uni kennen, und das geht viel leichter, wenn man vor Ort ist. 

Deshalb haben wir ein starkes Interesse daran, dass, sobald es wieder geht, die Lehrveranstaltungen zumindest Hybrid stattfinden, also teilweise online und teilweise präsent vor Ort. Die Uni darf und will nicht zu einer Fernuni verkommen.

Der direkte Austausch ermöglicht einem etwas, das der digitale Austausch nicht schafft: Das Übertragen von körperlichen und mehr intuitiv wahrnehmbaren Informationen.

Sie haben eben zwei Studien zur Pandemie während der ersten Lockdownphase abgeschlossen. Was genau haben Sie erhoben?

Lamm: Eine der Studien hat nach den Meinungen zur Pandemie gefragt – mit unterschiedlichen Fragestellungen, von der Compliance mit den Hygienemaßnahmen bis hin zum Glauben an Verschwörungstheorien. Die Befragung wurde initiiert von einem Kollegen an der New York University. Sie wurde während der diversen ersten Lockdowns in 63 Ländern mit knapp 65.000 Teilnehmer/innen durchgeführt, in Österreich war es eine repräsentative Stichprobe von etwa 1.000 Personen. Wir haben dabei auch nach dem Zugehörigkeitsgefühl, also der Identifikation mit der Gesellschaft, gefragt und den Einfluss auf die Einhaltung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gefragt.

Mit welchem Ergebnis?

Lamm: Eines der Hauptergebnisse ist, dass Menschen, die sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, identifizieren, eher dazu neigen, sich an die Verhaltensregeln zur Eindämmung der Pandemie zu halten. Dies mag nicht verwundern, denn aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass der Mensch dazu neigt sich mit einer sogenannten In-Group zu identifizieren und die Out-Group als außenstehend oder möglicherweise sogar als Gegenspieler zu sehen. Der Mechanismus dahinter wäre also: Den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie durch das Einhalten der Maßnahmen, Menschen, die ihnen am Herzen liegen und durchaus auch solche die sie nicht kennen, schützen – dann wird die Compliance, also die Bereitschaft, besonders hoch.

Menschen, die sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, identifizieren, neigen eher dazu, sich an die Verhaltensregeln zur Eindämmung der Pandemie zu halten.

Wenn man hingegen dieses Gefühl nicht hat, sondern sich als Fremdkörper in einer Gesellschaft fühlt, mit der man nichts zu tun haben will, etwa Menschen, die politisch am rechten Rand stehen oder Verschwörungstheorien anhängen, dann hält man sich weniger daran.

Und der Fokus der zweiten Studie?

Lamm: Das ist eine Tagebuchstudie, die wir in Österreich und in Italien während der ersten Lockdownphase durchgeführt haben. Über sieben Tage hinweg haben die Teilnehmer/innen mit einer Smartphone-App fünf Mal am Tag eingegeben, wie sie sich fühlen, wie gestresst sie sind, wie viele Sorgen sie sich über das Virus und seine Effekte machen. Wir wollten das allgemeine Stressempfinden erheben und Änderungen im Wohlbefinden und mögliche Resilienzfaktoren herausfinden.

Was haben Sie herausgefunden?

Lamm: Eine ganz interessante Sache, die auch durch viele andere Studien in der Zwischenzeit bestätigt wurde: Insbesondere junge Erwachsene waren während des Lockdowns besonders negativ von der sozialen Isolierung betroffen. Eine Erklärung dafür ist, dass sie noch nicht so stark in das soziale Netzwerk integriert sind wie ältere Personen. Eine andere Erklärung ist, dass die schwierige wirtschaftliche Entwicklung, der Verlust von Praktikumsplätzen oder die Angst davor, nach einem Studium keinen Job zu finden, das waren besondere Belastungsfaktoren für die Jungen. Während die Älteren, die aus einer gesundheitlichen Perspektive als Risikogruppe gelten, aus psychologischer Sicht eher entspannt waren. Legt man den Fokus also auf die psychologischen negativen Effekte der Krise, dann müsste man viel mehr die jungen Erwachsenen im Blick haben.

Die schwierige wirtschaftliche Entwicklung, der Verlust von Praktikumsplätzen oder die Angst davor, nach einem Studium keinen Job zu finden, das waren besondere Belastungsfaktoren für die Jungen.

Welche Ressourcen bräuchten die Jungen, um gestärkt wieder raus zu gehen?

Lamm: Die soziale Einbettung ist wichtig, auch das Halten der Sozialkontakte. Wir haben in der Isolation während des Lockdowns gesehen, dass die selbstberichtete Einsamkeit, also wie einsam man sich fühlt, mit höheren Stresswerten und geringerem Wohlbefinden einhergeht. Hier braucht es also spezifische Angebote, für alle Altersgruppen. Wie etwa Unterstützung anbieten, Perspektiven aufzeigen und die Möglichkeit, diese Phase der Unsicherheit zu nutzen, also nicht in Angst zu erstarren, sondern zu schauen, was man aus der Situation machen kann. 

Hat uns diese Pandemie nähergebracht, was Gemeinschaft eigentlich bedeutet und welche Gemeinschaften für uns wichtig sind?

Lamm: Was man im ersten Lockdown gesehen hat: Das prosoziale Verhalten ist gestiegen, die Hilfsbereitschaft. Das ist ein möglicher Coping-Faktor, also eine Möglichkeit, mit den Belastungen umzugehen. Das wissen wir auch aus vielen anderen Studien: Wenn ich in einer belastenden Situation bin, dann ist eine Möglichkeit, mir wieder positive Gefühle zu verschaffen, anderen zu helfen.

Was man im ersten Lockdown gesehen hat: Das prosoziale Verhalten ist gestiegen, die Hilfsbereitschaft auch.

In den letzten Monaten driftet es scheinbar mehr auseinander. Vom Altruismus während des Lockdowns im Frühjahr geht es jetzt wieder mehr in Richtung Egoismus: Jeder schaut vermehrt auf sich selber. Hier müssen die Politiker/innen aufpassen, dass in der öffentlichen Krisenkommunikation und insbesondere wenn es um die wirtschaftlichen und sozialen Effekte der Pandemie geht, nicht das Gemeinsame durch ein Gegeneinander ersetzt wird.

 

AUF EINEN BLICK

Claus Lamm ist Professor für Biologische Psychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Er ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Träger des Elisabeth Lutz-Preises der ÖAW.