14.07.2020 | Corona-Grenzen

„Die Taktzahl der Krisen und Grenzschließungen nimmt zu“

Viren kennen keine Grenzen, heißt es oft. Auch das Coronavirus hat zahlreiche Grenzen überschritten. Es hat aber auch neue Grenzen gezogen und man hat versucht SARS-CoV-2 über Grenzschließungen einzudämmen. Über den Bedeutungswandel von Grenzen vor, während und nach dem Ausbruch der Pandemie spricht ÖAW-Geograph Robert Musil im Interview.

Auf einem Autobahnschild ist zu lesen: "Ausreise beschränkt"
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Der Lockdown in Österreich ist weitgehend aufgehoben. Auch die Grenzen zu Nachbarländern sind wieder geöffnet. Wie lange das so bleibt, ist allerdings unklar. Zuletzt gab es in Europa etwa für den Westbalkan sowie Rumänien und Bulgarien erneut Reiseeinschränkungen. „Grenzen sind nichts Statisches, sondern sehr dynamisch“, sagt Robert Musil vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Coronapandemie zeigt das aktuell nur allzu deutlich.

Doch die Pandemie betrifft nicht nur Grenzen zwischen Ländern. „Denken wir etwa an vertikale Grenzziehungen, zwischen „oben“ und „unten“, die durch die Krise sichtbar geworden sind“, so Musil mit Blick auf soziale Ungleichheiten, die durch die gesellschaftlichen Folgen des Virus verschärft wurden. Ein Gespräch über Grenzen und ihren Bedeutungswandel in Zeiten der Pandemie.

Um sich vor dem Virus zu schützen, wurden zahlreiche Grenzbalken geschlossen. Welche Grenzziehungen wurden während der Covid-19-Krise sichtbar?

Robert Musil: „Grenze“ ist ein polysemantischer Begriff, die Implikationen für Grenzen durch die Covid-19-Krise zeigen sich daher auf mehreren räumlichen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Kontexten: Denken wir etwa an vertikale Grenzziehungen, zwischen „oben“ und „unten“, die durch die Krise sichtbar geworden sind, oder aber horizontale Grenzziehungen zwischen Staaten, die die Machtasymmetrien sichtbar gemacht haben. Wenn wir über Grenzen reden, müssen wir vorher klären, von welchen Grenzen wir sprechen – der Grenze zwischen Staaten, der Grenze des Individuums oder der Meta-Ebene von Grenzen.

Die Covid-19-Krise hat uns gezeigt, dass unser System des globalen Wettbewerbs und der Fokussierung auf Markteffizienz an Grenzen gestoßen ist.

Beginnen wir mit der Meta-Ebene: Welche Grenzen sind hier aufgetaucht?

Musil: Die Covid-19-Krise hat uns gezeigt, dass unser System des globalen Wettbewerbs und der Fokussierung auf Markteffizienz an Grenzen gestoßen ist. Gewisse Produkte, etwa Schutzmasken in ausreichender Quantität und Qualität, waren nicht mehr am freien Markt verfügbar – weil es eben billiger war, diese in China herzustellen. Seither denkt man mehr darüber nach, ob diese grenzenlose Welt in allen Bereichen wirklich so sinnvoll ist. Infrage gestellt wird die Sinnhaftigkeit, Güter quer durch die Welt zu transportieren und globale Liefernetzwerke aufrechtzuerhalten. Auf einmal bekommt Regionalität wieder einen Wert. Als Wissenschaftler kann man sich ebenso fragen, ob man wirklich zu jeder Konferenz fliegen soll. Auch für den Klimaschutz würde uns eine kritische Reflexion in der Krise nicht schaden.

Inwiefern hat sich zur Zeit des Lockdowns die Bedeutung der Staatsgrenzen gewandelt?

Musil: Grenzen sind nichts Statisches, sondern sehr dynamisch. Wie schnell sich die Vorstellung der uneingeschränkten Mobilität in der Europäischen Union ändern kann, haben wir schon bei der Flüchtlingskrise 2015 gesehen. Und auch in dieser Krise lässt sich auf der Ebene der Staaten eine massive Veränderung und Bedeutungszunahme von Grenzen beobachten. Dies manifestiert sich im Grenzmanagement und an der selektiven Durchlässigkeit von Grenzen: Wer darf die Grenze passieren, wer darf ausreisen? Das Virus hat hier die dahintersteckenden Machtasymmetrien in Europa deutlich gemacht: Länder wie Italien und Spanien sind aufgrund ihrer wirtschaftlichen Struktur und der starken Abhängigkeit vom Tourismus darauf angewiesen, dass die Grenzen zu den nördlichen Ländern geöffnet sind, letztlich auch Österreich.

Sie haben auch die individuelle Ebene angesprochen: Welche neuen Grenzen sind hier entstanden?

Musil: Die individuellen Freiheiten wurden sowohl im klassisch räumlichen Sinne massiv eingeschränkt, als auch im sozialen Sinn. Grenzziehungen funktionieren ja nicht nur territorial und räumlich abgegrenzt, sondern auch über soziale Netzwerke. Die neu entwickelte Corona-App, die in gewisser Weise sinnvoll eingesetzt werden kann, hat das Potential, die Grenzen der persönlichen Freiheit zu überwachen, wenn nicht einzuschränken.

Wie schnell sich die Vorstellung der uneingeschränkten Mobilität in der Europäischen Union ändern kann, haben wir schon bei der Flüchtlingskrise 2015 gesehen.

Besonders sichtbar sind durch das Virus auch die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft geworden. Die Eingrenzung auf das eigene Heim ist für die verschiedenen soziale Gruppen unterschiedlich erträglich beziehungsweise belastend. Es ist von Bedeutung, ob ich mit drei Kindern ein Einfamilienhaus mit Garten bewohne oder eine 50-Quadratmeter-Wohnung ohne Balkon. Da die ausgleichende Wirkung des öffentlichen Raums gefehlt hat – wir wurden über Wochen von der Pufferfunktion der Parks und öffentlichen Gärten weggesperrt – wurden die sozialen Unterschiede am Wohnungsmarkt akzentuiert. Insofern hat die Covid-19-Krise die ungleichen Wohnungsverhältnisse weiter verstärkt.

Innen die Sicherheit, außen die Bedrohung. Während der Ausgangsbeschränkungen wurde der eigene Haushalt zur Grenze stilisiert. Droht uns als sozialen Wesen auch eine Entfremdung, wenn wir nur noch sozial distanziert sicher sind?

Robert Musil: Der Einfluss der Covid-Krise auf die Grenzziehungen der Individuen ist widersprüchlich: Einerseits hat die soziale Distanzierung zwischen den Menschen deutlich zugenommen. Selbst in der Phase der Lockerung ist durch das Tragen von Masken jedes Individuum viel stärker auf sich selbst zurückgeworfen worden als zuvor. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Krise als Vehikel dient, die Grenzen der Individuen aufzulösen, nämlich auf der Ebene der technologischen Überwachung. In China und in vielen anderen Ländern werden die Kommunikationstechnologien der neuen sozialen Medien dazu genutzt, das Individuum und seine soziale Interaktion bis auf den letzten Schritt hin zu überwachen. Auf technologischer Ebene hat das Virus nicht zu einer Verstärkung, sondern eher zu einer Auflösung der individuellen Grenzen geführt. Corona kann auch als Schutzmäntelchen verwendet werden, um die Überwachung des Bürgers voranzutreiben und um Dinge durchzusetzen, denen wir als Zivilgesellschaft vor ein paar Monaten niemals zugestimmt hätten.

Einerseits hat die soziale Distanzierung zwischen den Menschen zugenommen. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich die Grenzen der Individuen auflösen, nämlich durch technologische Überwachung.

Ganze Generationen haben sich mittlerweile an offene Grenzen innerhalb der EU gewöhnt. In den vergangenen Monaten wurde etwa die Grenze zwischen Österreich und Deutschland mit Sturmgewehr patrouilliert, damit niemand das Virus einschleppt.

Musil: Das zeigt die Vulnerabilität der freien, liberalen Gesellschaft auf. Zum Stichwort Reisefreiheit noch ein historischer Verweis: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges konnte man sich in Europa, sofern man es sich leisten konnte, vollkommen frei bewegen. Ein Umstand, der aber in keiner Weise den Ersten Weltkrieg verhindert hat. Die Vorstellung, dass eine grenzenlose Welt dazu führt, dass es keine Konflikte mehr zwischen Staaten gibt, das ist also eine Illusion.

Erleben wir derzeit eine Renaissance der Grenzen?

Musil: Ja, ich sehe hier eine gewisse Konjunktur entsprechend dem Pendelschlag der Geschichte. In den 1990er-Jahren ist das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen. Das war die Boomphase der Globalisierung, der globalen Finanzmärkte, des Flugverkehrs und die Zeit, in der das Internet aufkam – ideengeschichtlich gesehen, eine Hochphase des Liberalismus und einer grenzenlosen Welt. Seit 2000/2001 schlägt das Pendel in die Gegenrichtung aus: Sei es der Crash der Finanzmärkte, die geplatzte Dotcom-Blase, der Anschlag auf das World Trade Center, die in den USA das Grenzregime verändert haben, oder die Euro-Krise 2008/2009, die sozusagen die makroökonomischen Grenzen zwischen den Volkswirtschaften in der Eurozone wieder sichtbar gemacht hat. 2015 dann die Flüchtlingskrise und jetzt die Coronakrise. Die Taktzahl der Krisen und der kurzfristigen Grenzschließungen nimmt meiner Einschätzung nach zu. Die Frage ist, ob wir schon wieder am äußersten Ausschlag des Pendels sind.

Von Grenzöffnungen profitieren die marktmächtigeren Akteure, etwa Konzerne die über globale Produktions- und Absatzstrukturen verfügen und kleinere Konkurrenten an den Rand drängen können.

Bringen Grenzen auch Vorteile oder zwangläufig immer eine Renationalisierung mit sich?

Musil: Es gibt natürlich unterschiedliche Interessen hinter einer Grenzöffnung oder Schließung. Es ist nicht immer Nationalismus, der Grenzzäune hochfahren will. Ein historisches Beispiel: Im späten 19. Jahrhundert haben die europäischen Großmächte mit der Kanonenboot-Politik die Öffnung der Seehäfen und den Handelszugang zum chinesischen Markt erzwungen. Ein aktuelles Beispiel: Von Grenzöffnungen profitieren tendenziell die marktmächtigeren Akteure, etwa Konzerne die über globale Produktions- und Absatzstrukturen verfügen und kleinere Konkurrenten mit geringerer Wettbewerbsfähigkeit an den Rand drängen können. Letztendlich ist es auch für die ökologische Landwirtschaft wichtig, dass Grenzen entstehen, um regionale Märkte zu schützen. Regionale, nachhaltige Landwirtschaft kann es in einem globalen Markt nicht geben.

Wie geht es mit den Grenzen in der Coronakrise weiter?“

Musil: Corona war ein sogenannter „schwarzer Schwan“, ein Terminus der Ökonomie und Modellentwicklung für unvorhersehbare Ereignisse. Und wir wissen schlicht nicht, wann das nächste Ereignis kommt und wie es sich auf unsere Welt der Grenzen und Grenzziehungen auswirken wird.

 

AUF EINEN BLICK

Robert Musil studierte Geographie und Geschichte an den Universitäten Wien und Innsbruck. 2015 habilitierte er sich im Fach Humangeographie an der Universität Wien. Er ist interimistischer Direktor des Instituts für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Gemeinsam mit Martin Heintel und Norbert Weixlbaumer veröffentlichte er das Buch „Grenzen. Theoretische, konzeptionelle und praxisbezogene Fragestellungen zu Grenzen und deren Überschreitungen“ (Springer Verlag, 2018).