11.11.2020 | Schule und Corona

"Bildung ist ein Menschenrecht"

Schulen vermitteln nicht nur Fachwissen, sondern erfüllen auch eine wichtige soziale und emotionale Funktion. Deswegen sollten sie auch in einer Pandemie so lange wie möglich offen bleiben, sagt ÖAW-Demograph Wolfgang Lutz. Denn das Recht auf Bildung sei ein hohes Gut.

Schulen überall auf der Welt stehen vor demselben Problem: Schließen aus Sicherheitsgründen oder trotz Corona offen lassen, um Lernen und Bildung zu ermöglichen?
Schulen überall auf der Welt stehen vor demselben Problem: Schließen aus Sicherheitsgründen oder trotz Corona offen lassen, um Lernen und Bildung zu ermöglichen? © Unsplash/CDC

Corona sei eine „schulische Heimsuchung“, sagte Bildungs- und Wissenschaftsminister Heinz Faßmann kürzlich bei einer Pressekonferenz. Die Pandemie bedrohe den schulischen Alltag. Das sieht auch Wolfgang Lutz, wissenschaftlicher Direktor vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) so: „Bildungseinrichtungen für Kinder sollen die allerletzten Institutionen sein, die geschlossen werden.“  Denn, so der Bildungsexperte weiter: „Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Befunde, dass die frühkindliche Entwicklung für kognitive Fähigkeiten und das Gehirn entscheidend ist.“

Welche Vorkehrungen getroffen werden können, um einen Schulbetrieb möglichst lange aufrecht zu erhalten und warum Distance Learning nur begrenzt sinnvoll für eine Gesellschaft ist, erklärt Wolfgang Lutz im Interview.  

Bei der Frage, ob Schulen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie geschlossen werden sollten, herrscht Uneinigkeit. Wie sehen Sie das als Bildungsexperte?

Wolfgang Lutz: Es ist ein komplexes Abwägen. Meine Empfehlung: Bildungseinrichtungen für Kinder sollen die allerletzten Institutionen sein, die geschlossen werden. Denn: Es gibt signifikante langfristige Schäden, die auftreten, wenn die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen beschnitten werden – sowohl für die Gesellschaft, als auch für die Menschen selbst.

Es gibt viele Beispiele dafür, wie Kinder für den Rest ihres Lebens darunter leiden, wenn ihr Recht auf Bildung beschnitten wird.

Inwiefern?

Lutz: Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Befunde, dass die frühkindliche Entwicklung für kognitive Fähigkeiten und das Gehirn entscheidend ist. Wenn es hier Aussetzer gibt, kann das später nicht mehr in der gleichen Weise nachgeholt werden. Durch Schließungen von Kindergärten und Volksschulen wird daher eine wesentliche Sozialisations- und Lernfunktion unterbrochen. Es gibt viele Beispiele dafür, wie Kinder für den Rest ihres Lebens darunter leiden, wenn ihr Recht auf Bildung beschnitten wird. Eine derart schwerwiegende Entscheidung darf nicht vorschnell getroffen werden.

Warum zehren Kinder ein Leben lang von diesem Umfeld, das ihnen die Familie oft nicht bieten kann?

Lutz: Das ist in der Pädagogik ganz deutlich dargestellt: Kinder brauchen ab dem Kindergartenalter außerhäusliche Anregungen. Das hilft ihnen ihre emotionale Balance zu finden. In der Gruppe lernen sie, dass es auch andere Kinder gibt, die auch ihre Rechte haben und man hier sozial Rücksicht nimmt. Das sind wichtige Lernprozesse nicht nur kognitiver Art, sondern auch emotionaler Art und im gesellschaftlichen Umgang. Deshalb wird das Schulsystem staatlich forciert und werden Kindergärten ausgebaut.

Neben der Doppelbelastung für Eltern, bei der Frauen oft die Hauptlast tragen: Welche Gefahren birgt Homeschooling für die Gesellschaft?

Lutz: Besonders leidet die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, auch noch in der zweiten Generation. Schule ist ein ganz starkes Instrument der Integration von früher Kindheit an. Weniger privilegierte Gesellschaftskreise können beim Unterricht zuhause weniger unterstützend wirken. Insofern verstärken Schulschließungen auch eine Teilung der Gesellschaft und können desintegrierend wirken. 

Schule ist ein ganz starkes Instrument der Integration von früher Kindheit an. Weniger privilegierte Gesellschaftskreise können beim Unterricht zuhause weniger unterstützend wirken.

Und wie sehen Sie das wieder eingeführte Distance Learning in der Oberstufe?

Lutz: In der Oberstufe ist Distance Learning als Überbrückung leichter, weil die Jugendlichen besser mit dem Internet umgehen können. Sie haben schon vor Corona gelernt, sich mit Freunden in den sozialen Medien zu vernetzen. Längerfristig können direkte persönliche Kontakte aber auch bei älteren Jugendlichen nicht durch rein virtuelle Kontakte ersetzt werden. Aber: Zwischen einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen vollständigen Öffnung und der Schließung der Schulen gibt es viele Zwischenstufen. Für die Oberstufe ist ein Zurückfahren zu bevorzugen, das einerseits einige der positiven Aspekte der Schule weiter behält, aber gleichzeitig das Infektionsrisiko stark reduziert.

Nicht in allen Ländern werden Schulschließungen erwogen. Welche anderen Beispiele gibt es?

Lutz: In Schweden oder auch in Finnland gibt es gar keine Schulschließungen. Finnland ist indes eines der am wenigsten betroffenen Länder in Europa. Der Grund: Die Menschen halten sich an die klaren Verhaltensregeln wie Masken tragen, Händewaschen, Lüften und so weiter. Das Problem hier ist, dass sich die Menschen nicht immer an die Regeln halten. Die Frage ist also, ob die Schule, wo man eine gewisse Kontrolle über das Verhalten hat, nicht sicherer ist, als wenn sich Kinder und Jugendliche außerhalb der Schule treffen und dann nicht an die Regeln halten.

Die Frage ist also, ob die Schule, wo man eine gewisse Kontrolle über das Verhalten hat, nicht sicherer ist, als wenn sich Kinder und Jugendliche außerhalb der Schule treffen.

Welche Auswirkungen haben Schulschließungen global gesehen?

Lutz: Wir haben zahlreiche Studien in Entwicklungsländern gemacht, etwa dazu wie sich die sogenannten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds in den 1980er-Jahren auf afrikanische Länder ausgewirkt haben. Damals ging es darum, durch Sparprogramme die Staatsbudgets zu konsolidieren. Es wurde aber nicht beim Militär oder bei großen Infrastrukturprojekten gespart, sondern bei der Bildung. Mit dem Ergebnis: Jüngere Geburtsjahrgänge konnten für einige Zeit weniger in die Schule gehen, was für diese Gruppe bis heute negative Folgen hat.

Wie ist die aktuelle Entwicklung?

Lutz: Besonders besorgniserregend ist, dass einige afrikanischen Länder wie beispielsweise Kenia bereits im Sommer beschlossen haben, die Schulen bis Ende des Jahres zuzusperren. Hier wird nicht nur einer ganzen Generation ihr Menschenrecht auf Bildung geraubt, sondern auch das wirtschaftliche Aufholen fast unmöglich gemacht. Aber das ist nicht nur in Afrika so, Studien des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung haben gezeigt, welche wirtschaftlichen Folgen und Kosten in europäischen Ländern entstehen, wenn Schulen geschlossen werden. 

Die Nationale Akademie der Wissenschaften in Deutschland, die Leopoldina, deren Mitglied Sie sind, hat ebenfalls eine Stellungnahme zu Schulschließungen abgegeben. Wovon geht die Schwesterakademie der ÖAW aus?

Lutz: Dass Bildung ein Menschenrecht ist. Damit beginnt die Stellungnahme der Leopoldina. Das vergisst man all zu oft und das wird auch medial selten so klar und deutlich betont. Die Leopoldina hat im Laufe des Sommers versucht, die Folgen dieser Schulschließungen für die langfristige Entwicklung der Kinder als auch der Gesellschaft abzuschätzen und gleichzeitig die epidemiologischen Folgen einzuordnen.

Das Fazit der Expert/innen aus Medizin, Sozialwissenschaften, Ökonomie und Entwicklungspsychologie lautet – ich zitiere: „Die Schließung ganzer Bildungseinrichtungen sollte so weit wie möglich verhindert werden.“ Um das zu erreichen, wird neben Präventionsmaßnahmen auch die Schaffung beschränkter und dauerhafter kleiner epidemiologischer Gruppenverbände, die sich nicht durchmischen, empfohlen sowie eine systematische Teststrategie, die eine Früherkennung von Infektionen mit SARS-CoV-2 ermöglicht.

 

AUF EINEN BLICK

Wolfgang Lutz leitet das Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das Institut für Demografie der Universität Wien und das World Population Program am IIASA. Im Jahr 2010 erhielt er den Wittgenstein-Preis des FWF. Er ist u.a. Mitglied der ÖAW, der deutschen Leopoldina und der U.S. National Academy of Sciences.

Stellungnahme der Leopoldina zu Schulen