18.08.2021 | Gletscherschwund

Abschmelzen beschleunigt sich bei vielen Gletschern in Österreich

Der Klimawandel lässt Österreichs Gletscher schmelzen. Doch nicht alle schmelzen im gleichen Tempo. Manche hat die Erwärmung aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass sie im Sommer viel mehr Eis verlieren, als sie im Winter dazu gewinnen. Diese Gletscher schmelzen besonders schnell. An fast allen Gletschern in Vorarlberg und Tirol hat dieses Ungleichgewicht in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, wie Forscher/innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nun herausgefunden haben.

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler
© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Es tropft, knackt und kracht in den Alpen. Die Erderwärmung lässt das Gletschereis schmelzen. Während erste Gletscher bereits verschwunden sind, haben andere deutlich an Ausdehnung und Volumen abgenommen – doch jeder Gletscher schrumpft anders. Wie sich das Abschmelzen mit der Zeit verändert hat, das haben jetzt Glaziolog/innen vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) anhand der Gletscher in Vorarlberg und Tirol ausgewertet. Die Ergebnisse sind im britischen Journal of Glaciology erschienen.
 
„Der Gletscherschwund ist ein großräumiger übergeordneter Trend, aber einzelne Gletscher unterscheiden sich mitunter deutlich voneinander in der Art und Weise, wie und wie schnell sie schmelzen“, sagt ÖAW-Glaziologin Lea Hartl. Gemeinsam mit ihren Kolleg/innen hat sie eine Bestandsaufnahme der Gletscher dreier Gebirgsgruppen in Vorarlberg und Tirol vorgenommen. Anhand von Höhenmodellen aller Gletscher der Ötztaler Alpen, der Stubaier Alpen und dem österreichischen Anteil der Silvretta haben die Wissenschaftler/innen sogenannte Verteilungskurven der Höhenänderung erstellt. Die Kurven – die Auskunft darüber geben, ob ein Gletscher über seine gesamte Fläche gleichmäßig Eis verliert, ob die Verluste stark unregelmäßig sind, oder, ob es Bereiche mit positiver Höhenänderung, also Eiszunahme, gibt – wurden für jeden Gletscher für drei Perioden erstellt: von 1969 bis 1997, 1997 bis 2006 und von 2006 bis 2017/18.

Machine Learning, um typische Muster zu erkennen

Dabei benutzen die Forscher/innen der ÖAW einen Algorithmus, der auf Self-Organizing Maps zurückgreift, also eine Form von Machine Learning als statistische Clustering Methode, um jede Verteilungskurve – und damit jeden Gletscher in jeder Zeitperiode – einer Gruppe möglichst ähnlicher Kurven zuzuordnen. Dazu Hartl: „Wir versuchen mit unserer Methode und der Gruppierung nach Mustern in der Höhenänderung eine Brücke zu schlagen zwischen regionalen Studien, in denen Besonderheiten einzelner Gletscher in den Hintergrund treten, und Case Studies, die zwar einen bestimmten Gletscher genau untersuchen, aber den regionalen Trend nicht gut sehen.“

Mit dem Ergebnis: „Die Verluste haben nicht nur zugenommen, die Verteilung über die Gletscherfläche hat sich auch verändert: In der ersten Zeitperiode waren die Verluste oft noch gleichmäßiger über die Gletscherflächen verteilt, da die Fließbewegung des Eises von oben nach unten das Abschmelzen an den Zungen zumindest teilweise ausgleichen konnte. Das ist immer weniger der Fall. Manche Gletscherzungen zerfallen regelrecht, während die Verluste weiter oben vergleichsweise geringer sind“, erklärt Hartl, die Erstautorin der Studie ist.

Klimawandel bringt Gletscher ins Ungleichgewicht

Das deutet darauf hin, dass das Fließen des Eises an vielen Gletschern geringer wird und eine untergeordnete Rolle für die Höhenänderungen spielt. So verlieren zum Beispiel immer mehr Seitenarme der Gletscher die Verbindung zu den Hauptzungen, Gletschertor und andere unterspülte Bereiche stürzen ein. Viele Gletscher befinden sich daher in einem Zustand starken Ungleichgewichts. Je größer jedoch das Ungleichgewicht eines Gletschers, desto mehr schmilzt er.
 
Ein Gletscher, der sich hingegen im Gleichgewicht befindet, verliert im Sommer gleich viel Masse, wie er im Winter dazu gewinnt. Die Studienergebnisse zeigen, dass ein großer Teil der untersuchten Gletscher in Österreich weit entfernt von einem Gleichgewichtszustand ist. „Nur einige wenige, sehr kleine Gletscher, die kaum noch als solche zu erkennen sind, haben sich von einem Zustand großen Ungleichgewichts wieder etwas mehr einem Gleichgewicht angenähert. Das sind aber Ausnahmen, die durch günstige lokale Gegebenheiten bedingt sind, zum Beispiel Schneeeintrag durch Lawinen“, erklärt Hartl und stellt klar: „Auch diese Gletscher verlieren weiterhin Masse, nur nicht mehr so schnell.“

Gletscher hinken Klima hinterher

Die Ergebnisse reihen sich in das globale Gesamtbild der weltweit rapiden Gletscherveränderungen ein, das kürzlich auch im Bericht des Weltklimarates dargestellt wurde. „Auch falls die Erwärmung zeitnah gestoppt wird, werden die Gletscher noch einige Zeit weiter schmelzen. Sie hinken dem Klima immer etwas hinterher und reagieren mit Verzögerung auf klimatische Veränderungen, ein neues Gleichgewicht kann sich also, wenn überhaupt, nur verzögert einstellen“, sagt Hartl. 

 

Auf einen Blick

Publikation:
"Classifying disequilibrium of small mountain glaciers from patterns of surface elevation change distributions", L. Hartl, K. Helfricht, M. Stocker-Waldhuber, B. Seiser, A. Fischer, Journal of Glaciology, 2021
DOI: 10.1017/jog.2021.90

Gletscher-Webcam:

Der Gletscher am Jamtalferner lässt sich auch live via Webcam beobachten. Die Webcam wurde im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mehrerer ÖAW-Einrichtungen eingerichtet, der Kommissionen für Interdisziplinäre ökologische Studien, der Kommission Klima und Luftqualität und dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung.