Tagungsbericht


Hatten sich 2004 bei ihrem letzten Treffen in Uppsala Religionswissenschaftler und Philologen um Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine und Peter Schalk mit dem Verhältnis einer Vorschrift zu ihrer Umsetzung vor allen in Bezug auf buddhistische Ordensregeln beschäftigt, so drängte sich schon dort die Frage auf: Welche Rolle spielt das Verhältnis von Norm und Praxis bei der Kanonisierung von Texten? Zur Diskussion dieser Frage luden dieses Jahr Professor Max Deeg vom Institut für Systematische Theologie der Universität Wien zusammen mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vertreten durch Professor Ernst Steinkellner zum vierten Symposion der Arbeitsgruppe Asiatische Religionsgeschichte ein. Gleich am Vorabend erhielten die Symposiasten beim Empfang durch Ernst Steinkellner und Max Deeg im Benediktushaus einen ersten Eindruck von der herzlichen und der bevorstehenden Arbeit förderlichen, gastlichen Atmosphäre am Tagungsort. Über die nächsten vier Tage sollte, wie Ernst Steinkellner in seinem Begrüßungswort in den schönen Räumen der Akademie vorwegnahm, folgend dem europäisch-aufklärerischen Prinzip der Hinterfragung, überprüft werden, inwiefern der Begriff "Kanon" für die Praxis der wissenschaftlichen Erforschung bestimmter asiatischer Literaturformen angemessen sei, ebenso wie in welchem Verhältnis normgeleitetes bzw. normstiftendes traditionsspezifisches "Kanonisieren" zur Praxis des Umgangs mit bestimmten Texten stehe. Dieses wurde in einer thematischen Reise von West nach Ost von Süd- und Zentralasien über China nach Japan unternommen. Zwei prominente Kanonforscher wurden auf diese Reise mitgenommen und zwar in Regionen, in die sie sich selber alleine wohl nicht hingetraut hätten: Max Mueller in das Dickicht seit seiner Zeit neu erschlossener oder neu erwachsener Literaturwälder, Jan Assmann in die Kanonlandschaften "East of Eden". Die Sacred Books of the East und der geschlossene Kanon waren die zwei Modelle, mit denen sich jeder und jede in Vortrag oder Diskussion konfrontiert fand.

Annette Wilke aus Münster und Angelika Malinar aus Berlin, deren Papier in absentia von Max Deeg verlesen wurde, befassten sich beide mit Kanonisierung im südasiatischen hinduistischen Traditionen, die alle mit der herausragenden Rolle des Veda und der an ihn anschließenden Literatur operieren. Während Annette Wilke ausgehend vom Veda für Klangpflege jenseits der Wortpflege und für Imagepflege jenseits der Sinnpflege votierte, um die kritisierte Textlastigkeit des Assmannschen Kanonbegriffs auszubalancieren, schlug Angelika Malinar in ihrem Text im Hinblick auf die Formierung der mittelalterlichen theistischen Denominationen das Modell eines keineswegs kanonisch verbindlichen Fundus von Texten vor, aus dem die sich diversifizierenden Traditionen ihren jeweiligen Kanon vermeintlich zusammenstellen konnten. Ausgeweitet wurde die Problematik durch Frank Neuberts Referat zur Kanonisierung von modernen Hagiographien am Beispiel von Ramakrishna und Vivekananda auf der Grundlage eines Puzzles hagiographisch-narrativer Topoi. Mein eigener Beitrag zur Systematisierung der als kanonisch geltenden Jainaliteratur mittels überlieferter Werklisten teils fiktiver, teils verloren geglaubter Werke schloss an Malinars Thematisierung des Hantierens mit literarhistorischen Affiliationen in südasiatischen Traditionen an und schätzte davon ausgehend Kenneth Folkerts Unterscheidung eines etwa mit ritueller Praxis verknüpften Kanons im Gegensatz zu einem selber diese Praxis gestaltenden Kanontyps als hilfreich ein.

Peter Schalk aus Uppsala, dem es ebenfalls um abwesende Texte ging, eröffnete das Feld der buddhistischen Kanones mit seinem Vortrag über den fehlenden Kanon der alten tamilischen Buddhisten, wobei er die Weigerung Buddhaghosas, Tamil als kanonische Sprache anzuerkennen als einen der Gründe für den Misserfolg dieser Gruppen im mittelalterlichen Tamilakam vorschlug. Karénina Kollmar-Paulenz aus Bern argumentierte in ihrer Darstellung des Transfers vom tibetischen zum mongolischen Kanon überzeugend zugunsten einer Rekonzeptualisierung von Kanon als Idee mit der These, dass angesichts des Reflexivwerdens von Kultur mit Kanonisierung ein Teil einer umfassenden Textmasse zur Repräsentation der mittransportierten Gesamtheit einer Kultur werde. Jens Wilkens aus Berlin, der das Thema eines virtuellen oder nicht überlieferten Kanons in der Forschungsgeschichte auf seinem Feld weiterverfolgte, skizzierte anhand des Verhältnisses von Chinesischem und Uighurischem die Möglichkeit zweier paralleler Kanones, eines vollständigen für chinesischkundige Mönche und eines um die monastischer Teile gekürzten und auf die Laien zugeschnittenen auf Uighurisch. Oliver Freiberger aus Austin, Texas, und Richard Salomon aus Seattle, Washington, brachten die Runde dazu, sich jeweils mit dem genealogischen Verhältnis von Anthologie und Kanon zu beschäftigen. Oliver Freiberger kam anhand seines Materials aus dem Kanon der Theravādins sowie modernen buddhistischen Anthologien zu dem Schluss, dass angesichts langer historischer Phasen eher schwächeren Kanonbewusstseins Kanonisierung nicht prozess-, sondern ereignisgeschichtlich zu fassen sei, wobei die historische Konstellation dieses Ereignisses mit der Frage "Für wen ist was wann kanonisch?" gefasst werden müsse. Richard Salomon skizzierte die rezeptionsgeschichtlichen Bewegungen expandierender und kontrahierender Texte und unterschied dabei in Bezug auf die Buddhisten in Greater Gandhāra die kanonisierenden Aktivitäten des Erhaltens und des Verwaltens des Dharma, während er Anthologisierung zu möglicherweise persönlich-individuellen Zwecken als eine frühe Form von Kanonisierung einschätzte. Die historische Entwicklung des chinesischen Kanons bis hin zur Konstitution eines westlich-wissenschaftlichen Standards entsprechenden Korpus zeichnete Max Deeg nach und arbeitete die zentrale Bedeutung des von Klaus Bruhn geprägten Begriffs der "Architektur" bei der Kanonisierung heraus. Analog zu Oliver Freibergers Orientierung am Ereignis sprach Max Deeg vom Kulminationspunkt einer Kanonisierung und warf wiederholt die Frage auf, wie dieser methodisch zu fassen sei. Vor dem Hintergrund derselben ostasiatischen Kanontradition, zu dessen Differenzierung die Gegenüberstellung von "religiös" und "archivarisch" vorgeschlagen wurde, untersuchte Christoph Kleine aus München eine moderne japanische Sammlung von zu Missionszwecken zusammengestellten buddhistischen Texten, die vielerorts ihren Platz neben Hotelzimmerbibeln gefunden hat. Ähnlich dem Vorschlag von Karénina Kollmar-Paulenz machte sich Christoph Kleine für eine Unterscheidung zwischen ideellen und realisierten Kanonizitätsschichten stark.

Ganz andere Probleme und Möglichkeiten warfen die Darstellungen der möglichen Kanones der Daoisten, Konfuzianer (Ruisten) und Shintoisten auf. Florian Reiter aus Berlin konnte darstellen, wie eng die daoistischen Texte in Überlieferungsreihen von Lehrer zu Schüler eingebunden waren und wie Geheimhaltung und in die Zukunft projizierte Virtualität Kanonizität bestimmen. Lauren Pfister aus Hong Kong überzeugte mit seinen Ausführungen zur kanonischen Wirkung der Übersetzung von James Legge und Richard Wilhelm aus dem Chinesischen, hinterfragte am Beispiel der Transformation eines Klassikers in einen heiligen Text verschiedene Varianten von Kanonisierung und plädierte für eine verstärkte Deutung von Übersetzungen als Kanon und Kanonisierung als Rezeptionsgeschichte. Bernhard Schneid aus Wien schließlich überraschte mit einem Vortrag, der die Literatur des Shinto als eine darstellte, in der es unter anderem aufgrund des Fehlens eines institutionalisierten Priestertums als Begleitumstand eines mangelnden Widerstands gegenüber staatlicher Vereinnahmung zu keiner etwa dem japanischen Buddhismus vergleichbaren Kanonisierung gekommen sei.

Gemeinsam war allen Positionen und Interessen das Festhalten am Kanonbegriff, eine Kritik des "Nahostzentrismus" des Assmannschen Kanonmodells, das Votum für einen "offenen Kanon", eine Kritik orientalistischer Kanonisierungen, sowie die Unterscheidung symbolischer und pragmatischer Kanonfunktionen. Uneingelöst blieben in einigen Beiträgen artikulierte Forderungen nach einer Ausweitung des Kanonbegriffs auf andere kulturelle Formen jenseits von Text in Richtung Bild, Ton und Performanz, ebenso wie die Frage nach dem Zusammenhang von Kanonisierung und religionswissenschaftlicher Lehre an Hochschulen. Solche weiterführenden Fragen waren nur möglich, weil mit anderthalb Stunden pro Beitrag einschließlich Diskussion die Organisatoren dafür gesorgt hatten, dass die Materialpräsentation niemals auf Kosten der Theoriediskussion ging und die Zeit es immer ermöglichte, die Reflexion auf Material durch Theorie voranzutreiben. Der geplante Tagungsband mag Gelegenheit geben, den einen oder anderen liegen gebliebenen Faden aufzunehmen, weiterzuspinnen oder zu verknüpfen. Die durchgängig ausgezeichnete logistische Betreuung vor allem durch Frau Cynthia Peck-Kubaczek sowie das exzellente Abendessen im "Tempel" rundeten eine Tagung ab, die in sich so stimmig und geschlossen war wie ein Kanon im herkömmlichen Sinne und so anregend und offen, wie dessen Hinterfragung nur sein konnte.

Christoph Emmrich (Heidelberg)