GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Martha Geiringer


geb. am 28. August 1912 in Wien, gest. vermutlich am 18. Jänner 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau (Oświęcim, Polen)

Martha Geiringer war von 1935 bis 1938 an der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) der Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Nach dem „Anschluss“ wurde sie aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte ihre Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Geiringer wurde im Jänner 1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und ist an einem bislang unbekannten Zeitpunkt zu Tode gekommen.

Geiringer wurde als Tochter des Kaffeehausbesitzers Wilhelm Geiringer – eines entfernten Cousins von Gustav Mahler – und seiner Frau Irma, geb. Körner, in Wien geboren. Sie studierte ab dem Wintersemester 1931/32 Biologie und Soziologie an der Universität Wien. An der Zoologischen Abteilung der BVA forschte Geiringer ab 1935. Ihre Dissertation, betreut vom Leiter der Abteilung Hans Przibram, konnte sie nach 1938 nicht mehr fertig stellen.

In der nach dem „Anschluss“ von der Akademie erstellten „Liste der Arbeitenden“ der BVA wurde sie als „Nicht-Arier“ und als „ausgetreten“ per 15. März 1938 vermerkt. Gemeinsam mit ihrer Schwester Gertrude (1918–2002) flüchtete Geiringer noch im selben Jahr nach Belgien. Im Oktober 1938 nahm sie an der Universität Gent ihr Biologiestudium wieder auf. Allerdings konnte sie es mit Februar 1939 aufgrund behördlicher Schikanen des deutschen Konsulats, das ihren bis Juli 1939 gültigen Pass nicht verlängerte, nicht mehr fortsetzen. Während ihre Schwester im selben Jahr nach England und später in die USA emigrierte, blieb Geiringer in Gent und konnte zunächst bei ihrer Freundin Yvonne Fontaine und deren Ehemann, dem Architekten Andreas Claessens, unterkommen.

Nach einer Reise auf die Philippinen und Aufenthalten in Italien und Frankreich kehrte sie im Jänner 1941 in das seit Mai 1940 von NS-Deutschland besetzte Belgien zurück. Am 8. Juni 1941 meldete sie sich bei der Ausländerregistratur in Gent. Geiringer wohnte möglicherweise wieder bei Fontaine, zumindest war sie mit ihr in Kontakt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Geiringer von deren Ehemann, der mit den Nationalsozialisten sympathisierte, bei den deutschen Behörden denunziert. In den Jahren 1941 und 1942 wurde sie insgesamt drei Mal verhaftet. Nach ihrer letzten Inhaftierung wurde sie zunächst in das Internierungslager Caserne Dossin in Mechelen (Malines) überstellt und vermutlich am 15. Jänner 1943 nach Auschwitz deportiert. Dieser Transport kam am 18. Jänner 1943 an. Der Todestag von Martha Geiringer ist unbekannt, er wird unter anderem mit dem Deportationstag gleichgesetzt.

Neben ihrer Schwester, der Naturwissenschaftlerin Gertrude Adler, hatte Geiringer zwei Brüder, den Journalisten und späteren APA-Begründer Alfred Geiringer (1911–1996) sowie den Mediziner und Begründer der New Zealand Medical Association Erich Geiringer (1917–1995). Allen dreien war die Flucht vor den Nationalsozialisten gelungen. Der Komponist, Pianist und Neffe von Martha Geiringer, Frederick Adler, widmete ihrem Gedenken das Streichquartett # 1 „In memoriam Martha Geiringer“, das im Mai 2005 in Gent uraufgeführt wurde.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Bestand BVA.
    • Archiv der ÖAW, NL Fritz Knoll, K. 1, Mappe 2, Konv. „Akten (1935)1938“ („Liste der Arbeitenden“).
    • Archiv der Universität Wien, Phil. Fak. Nationale, WS 1931/32–SS 1935.
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 205/8).
    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1936, 1937.
    • Fritz Spiegl, Obituary: Dr. Erich Geiringer, The Independent, 8.9.1995.
    • Klaus Taschwer, Vertrieben, verbrannt, verkauft und vergessen, in: derStandard.at, 19.2.2013.
    • Klaus Taschwer, Vertrieben, verbrannt, verkauft, vergessen und verdrängt. Über die nachhaltige Vernichtung der Biologischen Versuchsanstalt und ihres wissenschaftlichen Personals, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 105–115, hier: 111.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 233.
    • Marc Verschooris, Schrijven in de schaduw van de dood. Over thuiskomen, opduiken en achterblijven (1940–1955), Gent 2005, 101–112, 171, 188–189.
    • Marc Verschooris, Overleven als een gevecht om het bestaan. Over politieke gevangenen en de joodse bevolking tijdens W. O. II te Gent, in: Bulletin trimestriel de la Fondation Auschwitz 94 (2007), 55–80, hier: 70–71.

     


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