25.10.2016

Zwischen Nähe und Distanz

Die Geschichte Europas und Russlands ist geprägt von Phasen der Annäherung und des Auseinanderdriftens. Die öffentliche Gesamtsitzung der ÖAW beleuchtete das Verhältnis der beiden aus historischer Sicht.

© MARIUSZ PRUSACZYK / 123RF
© MARIUSZ PRUSACZYK / 123RF

„Russland ist eine europäische Macht“, verkündete Zarin Katharina die Große 1767. Knapp 250 Jahre später sagt die russische Literatin und Trägerin des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur Ljudmila Ulickaja hingegen: „Heute können wir russischen Kulturschaffenden, der kleine Teil, zu denen ich gehöre, nur noch eines sagen: ‚Leb wohl Europa!’“ Anziehung und Abstoßung scheinen die beiden Pole zu sein zwischen denen sich das Verhältnis von Russland und Europa von der Zarenzeit im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart bewegt.

Das zumindest war der Tenor bei der öffentlichen Gesamtsitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) am 14. Oktober 2016, die die „Beziehungen Russland-Europa“ in den Blick nahm. Mit Andreas Kappeler, wirkliches Mitglied der ÖAW und Professor an der Universität Wien, sowie Norman Naimark, ausländisches Mitglied der Akademie und Historiker an der Stanford University, gaben zwei ausgewählte Osteuropaexperten Impulsreferate zu diesem auch heute wieder aktuellen Thema.

Europäisches Mächtesystem und Russlands Avantgarde

Dabei schien am Anfang der gemeinsamen Geschichte zunächst die Anziehung im Vordergrund zu stehen, wie Andreas Kappeler sagte: „Man kann die Geschichte Russlands als eine Geschichte der stetigen Annäherung an Europa erzählen.“ Denn bereits vor Katharina der Großen wurde das Land sukzessive in das europäische Mächtesystem integriert, westliche Spezialisten, politische Berater und Wissenschaftler kamen nach St. Petersburg, die russischen Eliten näherten sich der Hochkultur Europas an und sprachen Französisch.

Doch auch Europa fühlte sich von Russland angezogen: Russische Musik, Malerei, Literatur gehörten zur europäischen Avantgarde. Die kulturelle Entwicklung Europas lässt sich ohne die Werke eines Dostojewski, die Kompositionen eines Tschaikowski oder der Gemälde eines Kandinsky nicht erzählen. Peter der Große etablierte Russland als Führungsmacht in Nordosteuropa und Alexander I. spielte eine entscheidende Rolle bei der Beendigung der Herrschaft Napoleons und der Neuordnung Europas am Wiener Kongress.

Doch von Beginn an, so Kappeler, hatte die Geschichte Europas und Russlands auch eine Kehrseite, die nicht zuletzt geprägt war von Stereotypen: der mächtige „russische Bär“ war für Europa stets auch eine Projektionsfläche für Russophobie, vermeintliches Barbarentum oder angenommene Rückständigkeit. Und auch auf russischer Seite standen sich immer wieder sogenannte „Westler“ und „Slawophile“ gegenüber.

Zwischen „Gorbatschow Honeymoon“ und „Reich des Bösen“

Blickt man durch amerikanische Augen auf das Verhältnis von Europa und Russland, dann sei es vor allem eine kritische Sichtweise auf Russland, die spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Haltung Washingtons gegenüber Moskau bestimmte, erläuterte Norman Naimark im Festsaal der ÖAW. Selbst in Zeiten, in denen die Beziehungen zwischen beiden Ländern eher gut gewesen seien, wie während des „Gorbatschow Honeymoons“ Ende der 1980er Jahre, hätten Skepsis und Ablehnung die amerikanische Russlandpolitik dominiert.

Eine Sichtweise, die, wie Nairmark erklärte, auf den Politikberater George F. Kennan zurückgehe. Er hatte 1947 einen Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ publiziert, in dem er sich für eine amerikanische Politik des „Containment“ gegenüber der Sowjetunion aussprach und schrieb, dass „the main element of any United States policy toward the Soviet Union must be a long-term, patient but firm and vigilant containment of Russian expansive tendencies (…).“ Auch wenn Kennan, wie er später betonte, eher an politische und wirtschaftliche Methoden zur Eindämmung sowjetischen Einflusses gedacht hatte, konnte das Konzept durchaus militärisch verstanden werden. Gemeinsam mit der „Truman Doktrin“ war damit der Beginn des „Kalten Kriegs“ eingeläutet.

Bis heute sei es in der amerikanischen Politik und öffentlichen Wahrnehmung eine umstrittene Frage, ob dieser Kalte Krieg je geendet habe oder gegenwärtig sogar von einem „new cold war“ gesprochen werden müsse, sagte Naimark. Noch immer, so der Historiker, sei die von US-Präsident Ronald Reagan in den 1980ern verwendete Bezeichnung der Sowjetunion als eines „Reichs des Bösen“ eine verbreitete Formel – wenngleich die Sowjetunion und das gegenwärtige Russland ideologisch kaum etwas miteinander gemein hätten.

Die Krimkrise und der Konflikt in der Ukraine sowie auch die Umwandlung in einen zunehmend autoritär geführten Staat zeigten allerdings, dass Russland seine Rolle als „Bösewicht“ aktuell nur allzu gut erfülle. In der Geschichte von Anziehung und Abstoßung zwischen Russland und Europa beziehungsweise dem Westen scheine daher derzeit eher das Auseinanderdriften denn die Anziehung zu dominieren. Was bleibe, sei aber die Hoffnung, dass sich beide Seiten erneut einander zuwenden – so wie es in der Geschichte immer wieder der Fall gewesen ist.

 

 

Andreas Kappeler ist seit 2001 wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW und Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er veröffentlichte u.a. „Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten“.

Andreas Kappeler


Norman M. Naimark
ist seit 2014 ausländisches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW und Robert and Florence McDonnell Professor in East European Studies am Department of History der Stanford University. Von ihm erschien u.a. „A Question of Genocide“ bei Oxford University Press.

Norman M. Naimark