04.08.2020 | Arzneimittelforschung

Wie sich Wirkstoffe zum Proteinabbau aufspüren lassen

In der Arzneimittelforschung kündigt sich ein Paradigmenwechsel an. Ein zellulärer Recycling-Prozess rückt dabei immer mehr in den Fokus: der gezielte Proteinabbau. Dieser Prozess soll nun mit geeigneten Wirkstoffen, den „Molecular Glue Degraders“, therapeutisch nutzbar gemacht werden. Molekularmediziner/innen der ÖAW stellen in „Nature Chemical Biology“ eine Strategie vor, mit der sie solche Wirkstoffe gezielt aufspüren können.

Erstautorin Cristina Mayor-Ruiz und Letztautor Georg Winter (© Laura Alvarez/CeMM).

Bislang sind trotz enormer Anstrengungen über drei Viertel aller menschlichen Proteine für die Entwicklung von Therapien unerreichbar. Ein neuer Ansatz setzt darauf, spezifische Proteine gezielt abzubauen, anstatt zu versuchen, sie im krankmachenden Prozess direkt zu manipulieren. Der gezielte Proteinabbau (Targeted Protein Degradation, TPD) orientiert sich an Recycling-Prozessen, die auch in gesunden Zellen aktiv sind. Er wird durch kleine Wirkstoffe vermittelt, die als „Degraders“ bezeichnet werden. Im Blick auf neue Therapieansätze, beispielsweise gegen Krebs, erwartet man, dass spezifische Degrader zur Erkennung und Eliminierung krankheitsauslösender Proteine beitragen und das zelluläre Proteinqualitätskontrollsystem neuprogrammieren.

Molecular Glues und Glue Degraders

In ihrer neuen Studie, die in Nature Chemical Biology erschienen ist, richteten Forscher/innen des CeMM - Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ihren Fokus auf eine als "Molecular Glue Degraders, MGD" bezeichnete Untergruppe, beispielsweise die bereits klinisch zugelassenen Thalidomid-Analoga, die sich in der Behandlung verschiedener Blutkrebsarten als wirksam erwiesen haben. Ihre Wirkung als MGDs war eher zufällig entdeckt worden. Um das Potenzial solcher Wirkstoffe aber zum Abbau schädlicher Proteine voll ausschöpfen zu können, starteten Georg Winter und sein Team eine systematische Suche. Ihr Ziel war es, eine innovative skalierbare Strategie durch phänotypisches chemisches Screening zu entwickeln.

Zu diesem Zweck haben Erstautorin und ÖAW-Postdoc Cristina Mayor-Ruiz und Kollegen zelluläre Systeme mit stark eingeschränkter E3-Aktivität entwickelt, die dazu verwendet wurden, um potenzielle Molecular Glue Degraders zu ermitteln. Gesucht wurde speziell nach Degradern, die das Wachstum von Blutkrebszellen unterbinden Die aussichtsreichsten Wirkstoffe wurden molekular charakterisiert – und führten zu einer unerwarteten weiteren Entdeckung: Im Zuge der Charakterisierung der Degrader wurden auch neue Molecular Glues entdeckt. Dabei handelt es sich um Proteine, die den Abbau des Proteins Cyclin-K induzieren, das in verschiedenen Krebsarten eine wesentliche Rolle spielt. Mit dem Einsatz des molekularen Wirkmechanismus der Cyclin-K-Degrader wird therapeutisch Neuland betreten.

Großes Potential für Therapien

Damit liefert diese Studie eine Herangehensweise für die Entdeckung von Molecular Glue Degraders, die sowohl hochgradig skalierbar als auch stark diversifizierbar ist. „Ich glaube fest daran, dass wir damit erst an der Oberfläche des Möglichen kratzen. Diese Studie ist das erste Kapitel von vielen, die noch folgen werden“, ist Georg Winter zuversichtlich.

 

AUF EINEN BLICK

Publikation:

„Rational discovery of molecular glue degraders via scalable chemical profiling”, Cristina Mayor-Ruiz et al., Nature Chemical Biology, 2020
DOI: 10.1038/s41589-020-0594-x

Förderung:
Die Studie wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), dem European Research Council (ERC) und dem Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert sowie durch ein Marie Skłodowska-Curie Stipendium unterstützt.