27.06.2018

Wie die Vielvölkermonarchie zerbrach

Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand war der Anfang vom Ende der Vielvölkermonarchie. Vor 100 Jahren löste sich Österreich-Ungarn in einzelne Nationalstaaten auf - der Krieg hatte das fragile Band, das die Völker zusammenhielt, endgültig zerrissen, erklärt US-Historiker Pieter M. Judson

© Wikimedia Commons/Public Domain
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Es waren zwei Schüsse, die die Welt für immer verändern sollten. Als der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durch die Straßen Sarajevos gefahren wurden, zog der bosnisch-serbische Nationalist Gavrilo Princip eine Pistole und erschoss das Thronfolger-Ehepaar. Was folgte, war mit dem Ersten Weltkrieg einer der opferreichsten Konflikte der Menschheitsgeschichte, der auch die politische Landkarte umwälzte. Österreich-Ungarn hörte 1918 auf zu existieren.

Doch auch wenn es ein Nationalist war, der die Schüsse abgefeuert hatte – die Vielvölkermonarchie stand vor dem Krieg nicht vor dem Zerfall in einzelne Nationalstaaten, sagt der US-amerikanische Historiker Pieter M. Judson im Interview: „Die Monarchie war hochmodern entwickelt und komplex.“ Man habe es geschafft, nationale Differenzen mit Föderalismus und Autonomie auszugleichen.

Judson war kürzlich bei einer Konferenz des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien zu Gast, bei der es unter dem Titel „Zerfall, Trauma, Triumph“ um das Epochenjahr 1918 und die Entstehung der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns ging.

Die Konferenz „Zerfall, Trauma, Triumph“ hat sich mit dem Wendejahr 1918 beschäftigt. Wie wichtig waren nationale Interessen in der Habsburgermonarchie noch vor dem ersten Weltkrieg?

Pieter M. Judson: Im Gegensatz zum gängigen Bild, dass wir von der Habsburgermonarchie haben, in dem sich Nachbarn verschiedener Nationalitäten angeblich gegenseitig bekämpft haben, glaube ich viel eher, dass das Alltagsleben von lokalen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Themen dominiert war. Nationalistische Interessen und Belange spielten hier keine große Rolle. Zudem ist es wichtig anzumerken, dass keine der nationalistischen Parteien und Bewegungen zu dieser Zeit das Ziel hatte, die Monarchie zu zerstören. Viel eher ging es darum, mehr Macht innerhalb der Monarchie zu erlangen. Die meisten nationalistischen Politiker haben sogar innerhalb der Institutionen Karriere gemacht.

Keine der nationalistischen Parteien und Bewegungen hatte das Ziel, die Monarchie zu zerstören. Viel eher ging es darum, mehr Macht innerhalb der Monarchie zu erlangen.

In meinem aktuellen Buch, „Habsburg: Geschichte eines Imperiums“, vertrete ich die These, dass sich Österreich-Ungarn im Jahr 1913 nicht am Rande des Kollapses befand. Es hatte Ähnlichkeiten mit anderen europäischen Staaten, wie die Forschung der letzten 30 Jahre zeigt, und die Monarchie war hochmodern entwickelt und komplex. Was Österreich-Ungarn jedoch unterschieden hat, war die Art und Weise, wie die österreichische Hälfte der dualen Monarchie es geschafft hat, Sprache und nationale Differenzen mit gesetzlichen, politischen und föderalistischen Rechten, die manchen Regionen zu reichlich Autonomie geholfen haben, zu überwinden.  

Wie kam es dann doch zur Organisation in Nationalstaaten?

Judson: Regionale Identitäten waren traditionell stark in Europa. Jedoch bezog sich das auf kleine, elitäre Gruppen. Massenhafte nationalistische Bewegungen waren relativ neu und im 19. Jahrhundert noch eher schwach. Die Idee der ethnischen Nation führte jedoch nach und nach natürlich zu einem Paradigmenwechsel. Jedoch hatte dieser Paradigmenwechsel nicht unbedingt separate, unabhängige Nationalstaaten zum Ziel. Die Idee, wie Nationalstaaten heute organisiert sind, ist vielmehr ein Produkt des 20. Jahrhunderts. 1918 ist Österreich-Ungarn nicht sofort in Nationalstaaten oder national definierte Einheiten kollabiert, sondern in Regionen.

Die harten Winter, der Hunger und das soziale Chaos führten dazu, dass das fragile Band, das die Großmacht zusammengehalten hat, früher oder später zerreißen musste.

Diese Regionen haben die Macht übernommen, um zu überleben, aber nicht, weil es ein großes Anliegen oder einen großen Wunsch nach Nationalstaaten gab. Der Kollaps des zentral organisierten Nahrungszulieferersystems, des Transports und der interregionalen Kommunikation führten vielmehr zu Teilung und zum Paradigmenwechsel. Während der langen Kriegsjahre mussten die Menschen eigene, lokale Nahrungsquellen finden und sich neu organisieren. Die harten Winter, der Hunger und das soziale Chaos führten dazu, dass das fragile Band, das die Großmacht zusammengehalten hat, früher oder später zerreißen musste.

1918 stellte für Österreich-Ungarn einen traumatischen Verlust von Macht dar. Wie sind die geteilten Staaten damit umgegangen?

Judson: Die Idee der historischen Schikane, die ein Bestandteil aller nationalistischen Formen ist, wurde in einigen Teilen der ungarischen politischen Kultur besonders kultiviert. In Österreich förderten die Übereinkommen ein neues Gefühl für nationale Identifikation, um die separate Existenz der österreichischen Republik zu rechtfertigen.

In den Jahren 1918 bis 1923 war mit „Trauma“ aber etwas ganz anderes gemeint: grausame Gewalt gegenüber Zivilisten, vor allem aber nicht nur gegenüber Juden, die sich lange nach 1918 fortsetzte, Krankheiten wie Kindersterblichkeit, die durch Mangelernährung noch viel höher ausfiel, die Spanische Grippeepidemie, der Hunger oder das Leiden der Geflüchteten. Es ist also fast grotesk beim Vertrag von Trianon oder St- Germain von einem „Trauma“ zu sprechen, wenn man sich das unverhältnismäßig große Leiden innerhalb der gesamten europäischen Gesellschaft zu dieser Zeit ansieht.

Während 1913 die Globalisierung voranschritt und innerhalb Zentraleuropas die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern gefördert wurde, änderte der Krieg alles.

Heute gibt es in Europa eine erneute Ära des Nationalismus. Wie erklären Sie sich das, wenn wir auf das Jahr 1918 blicken?

Judson: Während 1913 die Globalisierung voranschritt und innerhalb Zentraleuropas die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern gefördert wurde, änderte der Krieg alles. Nach 1918 limitierten die Gewinnerstaaten ihren Handel, und errichteten Barrieren gegen die Reisefreiheit innerhalb Zentraleuropas. Zollschranken wurden ebenso errichtet wie rigide Grenzsysteme, die eine lange Ära des globalen Handels und der Reisefreiheit beendeten. Das sollte uns gefährlich vertraut klingen.

Die letzten zehn Jahre unseres Jahrhunderts werden ebenfalls als eine Ablehnung des globalen Handels und der Migration angesehen, die sogar die Normen der Europäischen Union in Frage stellt. Es ist daher wichtig, dass wir gerade in den diesjährigen Gedenkveranstaltungen mit den alten Mythen über die Monarchie, Nationalstaaten und Migration, die Historiker/innen vor langer Zeit beseitigt haben, aufräumen, anstatt sie weiter zu fördern.

 

Pieter M. Judson ist Historiker und Professor für das 19. und 20. Jahrhundert am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Zuvor forschte und lehrte er am Swarthmore College sowie am Pitzer College in den USA. Er ist Autor mehrerer Bücher zur österreichischen Geschichte, darunter zuletzt „Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740–1918“.

Judson war zu Gast bei der Konferenz „Zerfall, Trauma, Triumph. Das Epochenjahr 1918 und sein Nachleben in Zentral-, Ostmittel- und Südosteuropa“, die auf Einladung des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW vom 23. bis 25. Mai 2018 in Wien stattfand.

Programm der Konferenz
Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW