21.12.2016

WIE DAS CHRISTKIND ZUM CHRISTKIND WURDE

Zur Weihnachtszeit hat das Jesuskind in der Krippe wieder Hochsaison. Doch der Heiland wurde nicht immer als nacktes Kindlein dargestellt. Das ist vielmehr eine Erfindung des Spätmittelalters, erklärt ÖAW-Forscherin Maria Theisen.

Darstellung des Jesuskinds im sog. „Smíšek-Graduale“, entstanden in Prag um 1490 © Österreichische Nationalbibliothek/Wien, Cod. Mus. Hs. 15492

Alle Jahre wieder feiern Menschen auf der ganzen Welt Weihnachten. Als Familienfest mit gegenseitigem Beschenken zelebriert, ist der christliche Anlass bekanntlich die Geburt Jesu bei Bethlehem. Besonders eine biblische Szene hat dabei Berühmtheit erlangt, wie sich auf jedem Weihnachtsmarkt rasch überprüfen lässt: Die Darstellung des göttlichen Kindes, das mit Maria und Josef im Stall neben Ochs und Esel die heiligen drei Könige empfängt.

„Die kindhafte Darstellung des Jesusknaben ist aber durchaus nicht selbstverständlich“, sagt Maria Theisen vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). „Sie unterscheidet sich von den Interpretationen des frühen Mittelalters, in denen das Jesuskind gern wie ein kleiner Erwachsener dargestellt wurde, um seine göttliche Dignität zu unterstreichen“, klärt die ÖAW-Forscherin auf.

Wie das Jesuskind in der Buchmalerei auftaucht

Theisen muss es wissen, denn sie arbeitet seit Langem zur Buchmalerei in mittelalterlichen Handschriften. Aktuell katalogisiert sie in einem Kooperationsprojekt von ÖAW und Universität Wien alle illuminierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek aus Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn der Jahre 1450 bis 1500. Zwar stand diese Zeit bereits im Zeichen des Buchdrucks, doch die hohe Kunst der Buchmalerei erhielt sich ihre Nische in der Bebilderung kostbarer Gebet- und großformatiger Gesangbücher. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Graduale der reichen Kuttenberger Unternehmerfamilie Smíšek: ein prachtvoll ausgestattetes, rund fünfzehn Kilo schweres Werk aus der Zeit um 1490. Nach dem Kirchenjahr geordnet enthält es auch Gesänge für die Weihnachtsmesse sowie das Fest der Heiligen Drei Könige – und: eine Darstellung der Weisen aus dem Morgenland, die einem kindlichen Jesus huldigen.

Druckgrafik und holländische Meister als Vorbild

Die Szene spielt in einer teilweise mit Stroh ausgelegten Ruine einer Kapelle, deren große Rundbogenfenster Ausblick auf eine weite Hügellandschaft geben. Die Figur des Hut schwenkenden Melchior im weißen Gewand weist dabei deutlich eine stilistische Nähe zur altniederländischen Schule der Malerei auf, wie Theisen erklärt: „Der böhmische Illustrator muss als Vorbilder Werke der großen niederländischen Maler Hans Memling und Rogier van der Weyden gekannt haben.“ Darüber hinaus folgte der Illuminator einem Kupferstich des berühmten deutschen Künstlers Martin Schongauer. Offenbar ist der Stil der Darstellung also vom Norden in den Süden gewandert. Doch die Darstellung von Jesus als Neugeborenem selbst geht weniger auf die holländischen Meister oder den deutschen Maler zurück, sondern spiegelt vielmehr einen allgemeinen Wandel im Zeitgeist wider, so Theisen.

Näher bei Gott durch Vermenschlichung

In der kindlichen Darstellung werde ein zunehmendes Bedürfnis der Zeitgenossen nach einer innigeren Verbindung zu Gott offenbar. „Der Wandel vom ‚kleinen Erwachsenen‘ zum ‚süßen Baby‘ war eine Erfindung des 14. Jahrhunderts“, erzählt die Kunsthistorikerin. „Sie hatte ihren Ursprung in einer emotionalisierten Frömmigkeit und äußerte sich in Weihnachtsbräuchen wie Krippenspielen oder Kinderwiegenfeiern in den mittelalterlichen Nonnenklöstern. Dort hatte man sogar eigene Wiegen mit einer Puppe des Christkinds aus Holz oder Wachs“, weiß Theisen zu berichten. Auch die Visionen der Brigitta von Schweden von der Geburt Christi hätten, laut Theisen, zur neuen künstlerischen Darstellung des Christkindes beigetragen. In ihren Offenbarungen schreibt die Mystikerin etwa „die Hirten wollten wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, da zeigte ihnen die Mutter, dass es ein Knabe war“.

Die Weihnachtsspiele, die Kinderlieder für Weihnachten als auch die kindliche Darstellung Jesu wurden schließlich als volkstümliches Brauchtum sowie im Kreis der Familie aufgegriffen. Dadurch konnte sich die spätmittelalterliche Version des Christusbilds verbreiten. Die heute üblichen weihnachtlichen Geschenke waren übrigens keine Erfindung des Mittelalters. Dieser Brauch wurde seit der Reformation von Martin Luther als Alternative zur damaligen Geschenksitte am Nikolaustag propagiert, um so die Freude der Gläubigen auf das Christuskind zu lenken.

 

 

Maria Theisen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Schrift- und Buchwesen am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW. Die promovierte Kunsthistorikerin befasst sich in ihrer Forschung mit der Buchmalerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Sie kuratierte mehrere Ausstellungen zu mittelalterlicher Buchkunst, darunter 2014/15 die Schau „Engel. Himmlische Boten in alten Handschriften“ im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek und unterrichtet an der Universität Wien sowie der Karls-Universität Prag. In ihrem aktuellen Projekt katalogisiert Theisen illuminierte Handschriften aus Ostmitteleuropa.

INSTITUT FÜR MITTELALTERFORSCHUNG DER ÖAW