06.12.2019 | Klimakonferenz in Madrid

“Wer Gletscher genießen will, sollte das bald machen”

Gletscherforscher/innen aus aller Welt haben im Fachjournal „Nature“ einen offenen Brief veröffentlicht, der dringend zu Maßnahmen gegen die globale Erwärmung mahnt. Der Adressat war die vom 2. bis 13. Dezember in Madrid tagende Weltklimakonferenz. Eine der Mitautor/innen des Schreibens ist die ÖAW-Glaziologin Andrea Fischer. Im Interview erklärt sie, warum Gletscher wichtige Indikatoren für den Klimawandel sind, wie sich die Situation durch die Erwärmung ändert und warum es jetzt notwendig ist, zu handeln.

Weltweit schmelzen die Gletscher durch den Klimawandel. Das Bild zeigt den Ngozumpa-Gletscher, den größten Eisstrom Nepals im Himalaya. © ÖAW

Die momentane Geschwindigkeit des Abschmelzens der Gletscher weltweit sei „beispiellos“, die Auswirkungen auf die Wasserversorgung und den Meeresspiegel voraussichtlich groß. Das schrieben 39 Gletscherforscher/innen in einem offenen Brief im Fachjournal „Nature“ an die Teilnehmer/innen der 25. UN-Klimakonferenz in Madrid. Seit 1960 hat der Temperaturanstieg dafür gesorgt, dass Gletscher weltweit insgesamt rund 9.000 Gigatonnen Eis verloren haben, heißt es in dem von Erstautor Michael Zemp von der Universität Zürich verfassten Artikel weiter.

Um die Dimension dieser Menge einschätzen zu können, hilft ein Vergleich weiter, den die Glaziolog/innen in ihrem Brief anstellen: Die verlorene Eismasse würde ausreichen, um die Fläche von ganz Spanien unter einer 20 Meter dicken Eisschicht verschwinden zu lassen. Allein dadurch sei der Meeresspiegel inzwischen bereits um drei Zentimeter angestiegen, so die Wissenschaftler/innen, zu denen auch Andrea Fischer vom Institut für Interdiszplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gehört. Geht das Tauen unvermindert weiter, könnten Gletscher in wenigen Generationen Geschichte sein. „Die kleinen europäischen Gletscher sind durch ihre tiefe Lage stark betroffen, besonders in den Ostalpen“, erklärt Fischer im Interview.

Gletscherforscher/innen sehen die Auswirkungen des Klimawandels relativ unmittelbar. Warum kommt der offene Brief in „Nature“ erst jetzt?

Andrea Fischer: Alle zehn Jahre treffen sich die nationalen Expert/innen auf dem Gebiet. Dann haben wir die Möglichkeit, solche gemeinsame Aktionen zu setzen. Die Menschen beobachten Gletscher systematisch und regelmäßig seit mittlerweile 125 Jahren. Wir haben Daten, die eindeutig Resultate der Erderwärmung zeigen. Deshalb müssen wir jetzt etwas tun.

Im Brief heißt es, dass es bis zum Jahr 2300 keine Gletscher mehr geben könnte. Haben wir überhaupt noch Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen?

Fischer: Hier in den Alpen konzentrieren wir uns in unseren Zukunftsszenarien auf den Zeitraum bis Ende des laufenden Jahrhunderts. Seit 1990 beobachten wir einen starken Rückgang der Gletscher, in den Ostalpen wird es bis Ende des Jahrhunderts wohl kaum mehr Gletscher geben, in den Westalpen ist die Situation etwas weniger dramatisch. Die großen Gletscher der Polarregionen in Grönland oder der Antarktis sind zum Glück viel stabiler.

Seit 1990 beobachten wir einen starken Rückgang der Gletscher, in den Ostalpen wird es bis Ende des Jahrhunderts wohl kaum mehr Gletscher geben.

Aber 2300 ist so weit in der Zukunft, dass ich die Unsicherheit von Prognosen für sehr hoch halte. Wir wissen nicht, ob wir dann in einer Plastikwelt leben oder wieder wie in der Steinzeit. Wir sollten aber den Kopf nicht in den Sand stecken. Wir können die menschliche Komponente des Klimawandels beeinflussen, das ist klar. Die nächsten zehn Jahre wird die Erwärmung voraussichtlich unverändert weitergehen. Aber die Zeit danach können wir mit unseren aktuellen Entscheidungen beeinflussen. 

Schrumpfen die Gletscher überall?

Fischer: Die kleinen europäischen Gletscher sind durch ihre tiefe Lage stark betroffen, besonders in den Ostalpen. Im Karakorum hingegen gibt es eine Anomalie, hier gibt es einzelne Gletscher, die wachsen. Das liegt wahrscheinlich aber nicht am Klima, sondern an den natürlichen Rhythmen dieser Gletscher, die längere Zyklen mit periodischen Vorstößen und anschliessenden Rückgängen durchlaufen. Auch hier wird die Erwärmung längerfristig Rückgänge bringen. In großen Höhen geht das Abschmelzen der Gletscher ebenfalls langsamer voran.

Wann gilt ein Gletscher als verschwunden?

Fischer: Wir sind gerade gezwungen, hier eine Definition festzulegen. Gilt ein Gletscher ab einer Mindestgrenze als verschwunden oder erst wenn das Eis ganz weg ist? Blockgletscher, die aus einem Schutt-Eis-Gemisch bestehen, können sich unter Umständen auch bei warmen Bedingungen sehr lange halten. Die Theoriebildung findet hier erst statt, weil wir das Problem in der Vergangenheit mit „gesünderen“ Gletschern nicht hatten. 

Wir haben das Potenzial, den Klimawandel zu bekämpfen, aber ob das reicht, um die Gletscher in den Alpen zu retten, ist ungewiss.

Welche Rolle haben Gletscher im Kampf gegen den Klimawandel?

Fischer: Zum einen sind die Vergleichsbilder, die drastische Gletscherrückgänge im 20. Jahrhundert dokumentieren, sehr eindrücklich. Sie zeigen auch Menschen ohne naturwissenschaftlichem Hintergrund sehr deutlich, dass hier etwas passiert. Zum anderen waren Gletscher entscheidend für das Verständnis des Klimawandels. Wir wissen, dass die Gletscher in Mitteleuropa vor etwa 18.000 Jahren bis zum Chiemsee gereicht haben. So haben wir gelernt, dass das Klima veränderlich ist. Auch zur Klärung der Rolle von CO2 als Treibhausgas haben Gletscherforscher/innen beigetragen.

Gibt es Erklärungsmodelle für den Gletscherschwund, die ohne menschlichen Einfluss auskommen?

Fischer: Die Verbindung zwischen Gletscherschwund und Mensch kommt aus unseren Atmosphärenmodellen. Das liegt daran, dass wir Glaziologinnen und Glaziologen am Ende nur die Auswirkungen steigender Temperatur messen können, aber nicht deren Ursache. Es gibt Diskussionen zu alternativen Ursachen für den Rückgang der Gletscher, aber die können die aktuelle Entwicklung nicht erklären. Diskussionen sind wichtig in der Wissenschaft. Aber der derzeitige Konsens ist klar: Der Mensch ist verantwortlich.

Wir müssen uns stattdessen damit beschäftigen, wie sich die Welt verändern wird, wenn die Gletscher verschwinden.

Wie werden sich die Gletscher in Österreich künftig entwickeln?

Fischer: Wir haben über hundert Jahre Messdaten. Das ist viel und wenig: Mehr als in den meisten Regionen der Erde, aber wenig für Vorausberechnungen um mehrere Jahrhunderte. Bis 2050 werden die Modelle besser werden. Aus heutiger Sicht haben sogar Gletscherprognosen bis zum Ende des Jahrhunderts eine Unsicherheit von 50 Prozent. Das liegt auch an Feedbackprozessen wie der zunehmenden Schuttbedeckung der Gletscher. In Österreich sind die Gletscher so klein, dass sie an der Auflösungsgrenze heutiger Modelle liegen. Das erhöht die Unsicherheit weiter. Die Bandbreite der Prognosen für 2100 liegt bei einem Gletscherrückgang von zehn bis 70 Prozent. Wer Gletscher genießen will, sollte das möglichst bald machen.

Die Prognose für die heimischen Gletscher ist also nicht sehr gut?

Fischer: Zum Glück liegt ein Großteil des Eises in den großen polaren Gletschern. Die Gletscher in den Alpen und im Himalaya fallen im Vergleich kaum ins Gewicht. Wir haben das Potenzial, den Klimawandel zu bekämpfen, aber ob das reicht, um die Gletscher in den Alpen zu retten, ist ungewiss. Wir wissen heute nicht genau, ob die Alpen schon einmal komplett eisfrei waren. Aber in Zukunft könnte das passieren. Auch ohne weitere Erwärmung werden die Alpengletscher weiter an Masse verlieren und vielleicht verschwinden. Durch Kunstschnee oder die Abdeckung der Eismassen im Sommer lässt sich das nicht aufhalten, nur verzögern. Wir müssen uns stattdessen damit beschäftigen, wie sich die Welt verändern wird, wenn die Gletscher verschwinden. 

Wenn die Gletscher schmelzen, steigt der Meeresspiegel, das bedroht wertvollen Siedlungsraum. In den Alpen stabilisieren die Gletscher den Untergrund. Abschmelzende Gletscher können zu vermehrten Murenabgängen und Felsstürzen führen.

Welche Konsequenzen hat das Abschmelzen der Gletscher?

Fischer: Das Abschmelzen macht den Klimawandel sichtbar. Aber hier geht es auch um den Lebensraum des Menschen. Wenn die Gletscher schmelzen, steigt der Meeresspiegel, das bedroht wertvollen Siedlungsraum. In den Alpen stabilisieren die Gletscher den Untergrund. Das Wasser aus der Schmelze bringt wenig Probleme, aber wie wir in der Schweiz schon gesehen haben, können abschmelzende Gletscher zu vermehrten Murenabgängen und Felsstürzen führen, die Siedlungsräume bedrohen. Die Vegetation holt sich die freiwerdenden Flächen zwar schnell zurück, aber eben nicht sofort.

 

 

AUF EINEN BLICK

Andrea Fischer ist interimistische Direktorin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW und korrespondierendes Mitglied der Akademie. Sie ist die österreichische Korrespondentin des globalen Gletschermonitoring-Netzwerkes WGMS. Das Netzwerk aus Expert/innen hat den offenen Brief zum Abschmelzen der Gletscher in „Nature“ initiiert.

Der offene Brief trägt den Titel „Glacier monitoring tracks progress in limiting climate change“ und ist via Open Access am 2. Dezember 2019 im Fachjournal „Nature“ erschienen.
 

FORSCHUNG RUND UMS KLIMA

Die Ursachen und Folgen des Klimawandels für Umwelt, Mensch und Gesellschaft standen 2019 auch an der ÖAW im Mittelpunkt von Forschungsprojekten, Konferenzen und Vorträgen. Mehr zur Forschung rund ums Klima ist auf der Website der Akademie zu finden.

www.oeaw.ac.at/klimawandel