15.11.2018

Vor hundert Jahren gingen Jahrhunderte zu Ende

Das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 wurde bei einer großen Konferenz an der ÖAW beleuchtet. Exklusive Interviews mit Historiker/innen und Auszüge aus Konferenzbeträgen gibt es in einer neuen Folge des ÖAW-Podcasts MAKRO MIKRO zum Nachhören.

© Wikimedia Commons/CC
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„Der Erste Weltkrieg hat überall in Europa ein Trauma hinterlassen, das psychologisch zu wenig aufgearbeitet wurde“, sagt die Historikerin Brigitte Mazohl und bezieht sich damit auf alltägliche Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit, aber auch auf eine geschichtswissenschaftliche Forschungslücke. Um diese und weitere Forschungslücken ging es bei der internationalen Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle – Die Bedeutung des Jahres 1918 in europäischer und globaler Perspektive“, die Anfang November – zum hundertsten Jahrestag des Endes des „Great War“ – an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien stattfand.

Krieg ohne Ende

Wie vielschichtig das Thema auch heute noch ist, zeigte gleich zu Beginn der Konferenz die Keynote Lecture von John Horne. Der Wissenschaftler vom Trinity College in Dublin stellte die Frage: „When Did the Great War End?“ Seine gewollt provokant formulierte Antwort war: „Gleichzeitig vor und nach 1918“. Denn es gebe, so Horne, durchaus Argumente dafür, dass der Erste Weltkrieg nicht zwischen 1914 und 1918, sondern zwischen 1911 und 1923 stattgefunden hat. So habe die Gewalt auch nach 1918 vor allem in den plötzlich neu entstandenen Nationalstaaten in Osteuropa angehalten. Das bestätigte bei der Konferenz auch sein Historiker-Kollege Rudolf Kucera von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, der über die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Polen sprach. Auch Länder, die als Sieger aus dem Krieg hervorgingen, waren nach 1918 alles andere als befriedet, wie Kucera anhand von Fallbeispielen ethnisch motivierter Gewalttaten aufzeigte.

Wendepunkt der Geschichte

Dennoch: Das Jahr 1918 war ein historischer Wendepunkt oder wie es der Osteuropa-Historiker Arnold Suppan ausdrückte: „1918 gibt es einen totalen Bruch.“ Das galt insbesondere für den Übergang der großen Imperien zu den Nationalstaaten. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass vor allem in Mittel-, Ost-, und Südost-Europa sowie im Nahen Osten mit 1918 Jahrhunderte zu Ende gegangen sind“, sagt ÖAW-Mitglied Suppan im Interview im Podcast MAKRO MIKRO. Mit dem Untergang des russischen, osmanischen und deutschen Reiches sowie Österreich-Ungarns verlieren auch große Dynastien ihre Macht. „Die sind innerhalb von wenigen Wochen weg. Das bisherige monarchische Prinzip war zu Ende. Es wird vom Prinzip der Volkssouveränität abgelöst“, so der Historiker.

1918 gibt es einen totalen Bruch.

Damit läutete 1918 aber nicht unmittelbar den Siegeszug der Demokratie ein. „Einerseits entstehen neue demokratische Gesellschaften, andererseits erleben wir mit den Faschismen eine neue Welle der Militarisierung“, erklärt Brigitte Mazohl in MAKRO MIKRO  – eine Militarisierung, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete.

Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg

An diesem großen, noch schrecklicheren Bruder kommt man bei einer Konferenz zum Ersten Weltkrieg nicht vorbei. War der erste gar ein Vorbild für den zweiten Krieg? Peter Lieb, Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, sieht darüber noch keine Einigkeit in der Geschichtswissenschaft. Umgekehrt lasse sich aber schon feststellen, dass die Kriegsführung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg das Bild vom Ersten Weltkrieg und die Rolle Deutschlands darin geprägt habe.

Auch Hew Strachan von der University of St Andrews in Schottland war mit historischen Vergleichen vorsichtig und betonte, dass man die Bilder vom Ersten Weltkrieg hinterfragen müsse, etwa jenes des unvermeidbaren „totalen Krieges“. So zeigte er auf, dass die Annahme, der Krieg sei von Anfang an als Weltkrieg gedacht worden, unzutreffend ist. Es sei vielmehr ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren gewesen, wie die Mobilisierung der Kolonien und die zeitgleich stattfindenden oder drohenden Revolutionen, die lokale Gewalt schließlich zu einem totalen Krieg eskalieren ließen. Auch die Industrialisierung und technische Neuerungen hätten eine Rolle gespielt. „Was aber totalen Krieg eigentlich befeuert“, so Strachan, „ist Politik und Ideologie“.

Untergang und Neuanfang

Was ein solcher „totaler Krieg“ nicht nur für die Soldaten an der Front sondern auch für den Alltag der Menschen außerhalb der unmittelbaren Kriegsschauplätze bedeutete, erläuterte Anatol Schmied-Kowarzik. Der Kollaps des Imperiums Österreich-Ungarn war kein allein militärischer sondern auch ein versorgungstechnischer. Der ÖAW-Historiker präsentierte Statistiken über die Pro-Kopf-Konsumation von Brot und wie diese im Verlauf des Krieges abnimmt und dafür Krankheiten zunehmen. Zugleich sah sich die staatliche Obrigkeit schließlich außerstande die Nahrungsmittelproduktion zu erfassen, da die Bauern aus Not begannen falsche Angaben zu machen. Wirtschaftlich lag die Monarchie am Ende des Kriegs am Boden.

Neue grenzenlose Welten scheinen möglich.

Doch 1918 bedeutete nicht nur Untergang sondern auch Neuanfang. „Neue grenzenlose Welten scheinen möglich“, sagte Ingrid Sharp von der University of Leeds, und zitierte damit Literat/innen, die über den Zeitgeist schrieben sowie Frauenbewegungen, die sich in dieser Zeit formierten und für Emanzipation und Frauenwahlrecht kämpften. „Eine allgemeine Rückkehr zur alten Geschlechterordnung war ausgeschlossen, die Nachkriegszeit war notwendigerweise eine Neuverhandlung der Geschlechterverhältnisse“, so Sharp.

Dass diese „Neuverhandlung“ alles andere als einfach war, betonte Christa Hämmerle von der Universität Wien. Besonders wenig Aufmerksamkeit sei bis jetzt etwa der Kriegsheimkehr von Frauen gewidmet worden. Frauen seien massenhaft als Schreibkräfte, Näherinnen und Köchinnen rekrutiert worden. „Gegen Kriegsende waren noch immer 20.000 von diesen Frauen im Einsatz“, sagte Hämmerle. Aber nach ihrer Demobilisierung wisse man fast nichts mehr über diese Gruppe. Ähnliches gelte für die vielen Kriegskrankenpflegerinnen.

Aufarbeitung eines europäischen Traumas

Ähnlich wie Brigitte Mazohl betonte auch Hämmerle die Traumatisierungen, die nach dem Krieg wenig bis keine Aufarbeitung fanden: „Mit den heimkehrenden Soldaten teilten sich diese Frauen traumatische Kriegserfahrungen, über die man in der Nachkriegszeit wenig sprechen konnte.“ Stattdessen sei eine problematische Erinnerungskultur entstanden, so Mazohl: „Man hat die Soldaten einfach zu Helden erhöht, um sich nicht mit diesem Trauma psychologisch auseinandersetzen zu müssen.“

Der Erste Weltkrieg hat überall in Europa ein Trauma hinterlassen, das psychologisch zu wenig aufgearbeitet wurde.

Einen Beitrag zur Aufarbeitung der Traumata des Ersten Weltkriegs wollte auch die Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle“ leisten. Den Organisator/innen der ÖAW sei es daher auch besonders wichtig gewesen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ländern einzuladen, die nach 1918 als Sieger galten, als auch solche, die als Verlierer gesehen wurden. Brigitte Mazohl: „Es ging uns darum, das Ende des Ersten Weltkriegs als gemeinsame europäische Erfahrung aufzuarbeiten und damit die vormaligen Barrieren zwischen den verfeindeten Nationen zu überwinden.“

 

Die Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle. Die Bedeutung des Jahres 1918 in europäischer und globaler Perspektive“ fand vom 3. bis 6. November 2018 an der ÖAW statt und versammelte rund 50 Wissenschaftler/innen aus dem In- und Ausland in Wien.

Programm der Konferenz

Mehr zur Keynote-Lecture „When Did the Great War End?“ von John Horne in einem Interview mit dem Historiker auf der ÖAW-Website.

Interview mit  John Horne

Mehr zur wirtschaftlichen Situation der Monarchie zu Kriegsende findet sich zum Nachlesen in einem Beitrag von ÖAW-Historiker Anatol Schmied-Kowarzik im „Geschichte Österreichs“-Blog auf „Der Standard“.

Geschichte Österreichs-Blog


Podcast Makro Mikro #3: Das Ende des Ersten Weltkriegs

Podcast MAKRO MIKRO