25.11.2016

Von Higgs-Teilchen und neuer Physik

Seit 50 Jahren sind Physiker/innen der ÖAW den Bausteinen unseres Universums auf der Spur. Über vergangene Erfolge und zukünftige Herausforderungen spricht der CERN-Physiker Manfred Krammer im Interview. Er war in Wien zu Gast beim runden Jubiläum des Instituts für Hochenergiephysik.

© Klaus Pichler / ÖAW
© Klaus Pichler / ÖAW

Manfred Krammer mag inzwischen die experimentelle Physik am Schweizer CERN leiten – der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist der Physiker nach wie vor eng verbunden. Nicht nur als gebürtiger Wiener sondern auch als ehemaliger stellvertretender Direktor des Instituts für Hochenergiephysik (HEPHY) der ÖAW. Zum 50. Jubiläum des Instituts war er nun am 24. November 2016 bei einem großen Festsymposium an der Akademie zu Gast. Dort wurden vergangene Erfolge gefeiert und ein Ausblick auf kommende Entwicklungen in der Teilchenphysik gewagt.

Seit 1966 forschen die Physiker/innen des HEPHY in Wien und am CERN, dem weltweit größten Forschungszentrum für Teilchenphysik in Genf. Doch nicht nur dort sind das Know-how und die High-Tech-Entwicklungen der Österreicher gefragt. So suchen die ÖAW-Forscher/innen im CRESST-Experiment am Laboratori Nazionali del Gran Sasso in Italien nach neuen Erkenntnissen zur bisher rätselhaften Dunklen Materie und bringen sich mit einem Siliziumstreifen-Detektor Made in Austria beim Teilchenbeschleuniger in der japanischen High Energy Accelerator Research Organization ein.

Im Interview erzählt Manfred Krammer von Höhepunkten der gemeinsamen Forschung, wie der Entdeckung des Higgs-Bosons, erklärt, warum das Standardmodell der Physik noch nicht alle Fragen beantwortet hat und zeigt sich überzeugt, dass die Zukunft noch einige spannende neue Erkenntnisse zu den Bausteinen unseres Universums bereithält.

Herr Krammer, wenn Sie auf die 50 Jahre Teilchenphysik an der ÖAW zurückblicken, was war für Sie das größte Ereignis – die Entdeckung des Higgs-Teilchens?

Manfred Krammer: Das war rückblickend sicher einer der sehr großen Erfolge aber nicht der einzige in dieser Größenordnung. Ähnlich wichtig für die Entwicklung der Teilchenphysik war die Entdeckung der W- und Z-Bosonen im Jahr 1983. Damit bewies man die Existenz dieser Bosonen als Vermittlerteilchen der schwachen Kernkraft und konnte so die Theorie der Vereinigung der elektromagnetischen und der schwachen Kraft beweisen. Das war damals ein riesiger Schritt in der Teilchenphysik, der auch im darauffolgenden Jahr mit einem Nobelpreis bedacht wurde. Das ÖAW-Institut für Hochenergiephysik war hier an einem der beiden Detektoren maßgeblich beteiligt.

Die Entdeckung des Higgs-Bosons hängt damit sogar zusammen. Die W- und Z-Bosonen sind sehr schwer, das Photon für die elektromagnetische Kraft hingegen masselos. Hier kommt die Theorie von Brout, Englert und Higgs aus den 1960er Jahren ins Spiel, die diese Phänomene mit dem mittlerweile bekannten Higgs-Feld erklären kann: Je stärker ein Teilchen dieses Feld spürt, umso mehr Masse bekommt es. Sprich das Photon spürt es nicht, die zwei Bosonen schon. Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons bestätigte man auch die Existenz dieses Feldes und darüber hinaus erklärte man, warum Elementarteilchen Masse haben.

Wie sehr war das HEPHY an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt?

Krammer: Das Institut hat das CMS Experiment mitbegründet – das war Anfang der 1990er Jahre. Man hat also mitdefiniert, wie das Experiment aussehen soll und dafür Simulationen und Berechnungen gemacht. Zudem hat das HEPHY zwei wichtige Bauteile geliefert. Zum einen die Spurdetektoren, mit denen die Hochenergieereignisse im Large Hadron Collider des Europäischen Kernforschungszentrums CERN aufgenommen werden – die eindrucksvollen Bilder sind bekannt.

Außerdem stammt das elektronische Auswahlsystem aus Wien, das hilft dabei, die eine Milliarde Kollisionen, die der LHC pro Sekunde produziert, zu filtern. Das heißt, das ist eine sehr schnelle Elektronik, die dann aus einer Milliarde Ereignissen wenige hundert macht – der Rest wird verworfen. Erst damit ist es möglich geworden, die wenigen Higgs-Ereignisse herauszufiltern. Abgesehen davon, hat das Institut natürlich auch so laufend am Projekt mitgearbeitet. Man kann also durchaus sagen, das Institut hat einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Das Higgs-Teilchen machte das Standardmodell quasi komplett – damit kann man nun 5 Prozent von dem erklären, was existiert. Die restlichen 95 Prozent sind Dunkle Materie und Dunkle Energie. Sie lassen sich mit dem Standardmodell nicht erklären. Muss man sich von diesem Modell verabschieden, um zu einer Lösung zu kommen?

Krammer: Man muss das eher so sehen: Auch wenn man die Komponenten des Standardmodells gut kennt, im Detail gibt es durchaus noch offene Fragen. Man weiß beispielsweise nicht, warum wir in einem von Materie dominierten Universum leben. Das heißt, es ist noch offen, wo die Antimaterie hingekommen ist, die beim Urknall in demselben Verhältnis vorhanden war, wie die Materie. So komplett das Standardmodell vom Formelmodell her ist, man kann nicht alles erklären.

Welche Aufgabe hat hier die Hochenergiephysik?

Krammer: Wir untersuchen die uns bekannten Teilchen weiter, um noch besser zu verstehen, wie das Standardmodell funktioniert. Wir brauchen neue experimentelle Erkenntnisse, um zu sehen, in welcher Richtung die richtige Theorie liegen könnte. Wir stecken also nicht in einer Sackgasse, sondern eher vor einer vielfachen Verzweigung und hoffen, dass wir in den nächsten Jahren Hinweise finden, die uns die richtige Richtung vorgeben.

Aber wir wissen natürlich, dass das Standardmodell nicht die letzte Weisheit sein kann, es muss noch ein übergeordnetes Modell geben, das bei bis zu sehr hohen Energien funktioniert und vermutlich mit der Dunkler Materie gekoppelt ist. Wie die Dunkle Energie wiederum hier hinein passt, die rund 70 Prozent der Energie in unserem Universum ausmacht, ist noch ein offener Punkt. Hier gibt es aber durchaus Theorien.

Welche?

Krammer: Eine Theorie geht davon aus, dass Dunkle Energie ein ähnliches Feld sein kann, wie das Higgs-Feld. Das macht es für uns auch sehr interessant, das Higgs-Teilchen und damit verknüpft auch das Higgs-Feld so genau wie möglich zu studieren, um so vielleicht etwas über andere Energiefelder zu lernen. Es gibt aber viele Möglichkeiten, keine Theorie macht präzise Vorhersagen – so wie das beispielsweise bei der Higgs-Theorie der Fall war.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie Hinweise auf die „neue Physik“, wie sie oftmals genannt wird, finden werden?

Krammer: Wir werden sicher neue Hinweise finden, weil wir mit dem LHC einen neuen, sehr hohen Energiebereich betreten und zusätzlich immer genauer messen werden. Wir führen daneben auch weitere, kleinere Experimente durch, die ebenfalls Hinweise liefern können. Ich bin mir sicher, dass wir mit dieser Fülle an Experimenten erfahren werden, in welcher Richtung eine neue, eine übergeordnete Theorie zu finden ist. Prinzipiell heißt ja neue Physik nichts anderes, als eine übergeordnete Theorie, die in einem Grenzbereich, sprich bei niedrigeren Energien dem Standardmodell entspricht und bei höheren Energien eine neue mathematische Struktur hat.

 

 

Manfred Krammer ist Leiter des Department für experimentelle Physik am CERN in Genf. Vor seiner Berufung in das Führungsteam von CERN-Generaldirektorin Fabiola Gianotti war er bis Ende 2015 stellvertretender Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der ÖAW. Er ist Autor bzw. Koautor von über 700 Publikationen in wissenschaftlichen Journals.

Das HEPHY ist Österreichs größtes Zentrum für experimentelle und theoretische Teilchenphysik. Es beschäftigt über 60 Mitarbeiter/innen und ist seit seiner Gründung im Jahre 1966 ein Institut der ÖAW.

Institut für Hochenergiephysik der ÖAW