27.04.2016

Vom alten Orient zum Nahen Osten

Die weltweit bedeutendste Konferenz zur Archäologie des Nahen Ostens präsentiert an der ÖAW neueste Erkenntnisse zur Frühzeit der Menschheit und zu antiken Hochkulturen. Internationale Expert/inn/en ziehen dabei auch Bilanz zur aktuellen Bedrohung des Kulturerbes in der Region und stellen zukunftsweisende Schutzmaßnahmen vor.

© Karin Bartl/Deutsches Archäologisches Institut, Orient-Abteilung
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Die weltweit bedeutendste Konferenz zur Archäologie des Nahen Ostens präsentiert an der ÖAW neueste Erkenntnisse zur Frühzeit der Menschheit und zu antiken Hochkulturen. Internationale Expert/inn/en ziehen dabei auch Bilanz zur aktuellen Bedrohung des Kulturerbes in der Region und stellen zukunftsweisende Schutzmaßnahmen vor.

Die „International Conference for the Archaeology of the Ancient Near East“ (ICAANE) versammelt alle zwei Jahre führende Expert/inn/en zur Archäologie des Orients. Heuer findet diese Konferenz erstmals in Österreich statt: Organisiert vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie (OREA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sind vom 25. bis 29. April 2016 mehr als 800 Wissenschaftler/innen aus 37 Ländern, darunter der Doyen der türkischen Archäologie Mehmet Özdoğan und der israelische Harvard-Archäologe Ofer Bar-Yosef, in Wien zu Gast.

Bei insgesamt 28 Workshops, acht Fachpanels, einer Special-Session zum Kulturerbe mit Vertreter/inne/n von UNESCO, österreichischem Außenministerium und NGOs, sowie einer großen Poster-Ausstellung stehen eine Woche lang die neuesten Forschungsergebnisse zur Geschichte vergangener Kulturen von der Steinzeit bis zur Spätantike sowie deren Bedeutung in der Gegenwart im Mittelpunkt.  

Wichtiger Impuls für Österreichs Archäologie

„Die Konferenz ist für die hiesige Archäologie ein wichtiger Impuls“, betont OREA-Direktorin Barbara Horejs die Bedeutung der Konferenz für Österreichs Archäologie. „Denn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Kernzone in der Menschheitsgeschichte veranschaulicht nicht nur, wie zentral archäologische Grundlagenforschung für unser Verständnis vergangener wie heutiger Gesellschaften ist. Die Konferenz an der ÖAW demonstriert auch, dass exzellente Forschung nur grenzüberschreitend und international zu großen und nachhaltigen Erkenntnissen führt“, so Horejs weiter.

Österreich ist seit Jahrzehnten international führend in der archäologischen Forschung, wie nicht zuletzt drei aktuelle Grants des Europäischen Forschungsrats (European Research Council – ERC) für die OREA-Forscher/innen Manfred Bietak, Barbara Horejs und Katharina Rebay-Salisbury belegen. Österreichische Archäolog/inn/en sind auch an zahlreichen internationalen Grabungsprojekten beteiligt, von denen Ephesos das Bekannteste ist. Wissenschaftler/innen des OREA sind ferner in Forschungen in Ägypten und an der Levante oder in der Ägäis und in Anatolien eingebunden. Durch die ICAANE werde die internationale Vernetzung von Österreichs Archäologie nun weiter gestärkt und ausgebaut, so Horejs. Zudem profitiere man durch die Konferenz unmittelbar vom neuesten Wissensstand des Faches. 

Neues zur neolithischen Revolution und zum Klimawandel

Wie umfangreich dieser ist, zeigt ein Blick in das reichhaltige und vielfältige wissenschaftliche Programm. Es spannt einen weiten Bogen von Themen wie Ahnenkult, Religionspraktiken und Gender Identity in der Steinzeit, über den Einfluss von Klimaveränderungen auf die Lebensweise, bis hin zu Migrationsprozessen und ihrem Zusammenhang mit entscheidenden Epochenwechseln in der Menschheitsgeschichte.

So geht ein Workshop beispielsweise der Frage nach, warum in der Jungsteinzeit der Übergang vom Nomadentum zum sesshaften Leben der ersten Ackerbauern und Viehzüchter in Westanatolien plötzlich abbrach – und erst rund 2000 Jahre später wieder einsetzte. Bis heute ist die Unterbrechung dieser zentralen Revolution der Menschheitsgeschichte ein Rätsel. Bisher vermutete die Forschung klimatische Veränderungen als Grund dafür. Barbara Horejs stellt bei der Konferenz eine andere Erklärung vor, die sie in einem vom Wissenschaftsfonds FWF mit einem START-Preis geförderten Projekt und einem ERC Grant entwickelt hat: Der Prozess könnte wieder in Gang gekommen sein, indem mobile Gruppen neue Kolonien in der Ägäis gründeten. Von dort hat sich die Idee der Sesshaftigkeit vermutlich auf den europäischen Kontinent ausgebreitet. Die heute weltweit dominierende Lebensweise wäre somit ein Ergebnis von frühgeschichtlicher Migration.

Auch der Klimawandel, mit dem gegenwärtige Gesellschaften konfrontiert sind, war bereits vor tausenden von Jahren eine Herausforderung für die Menschheit. Aktuelle Daten zeigen, dass es zum Beispiel vor rund 8.200 Jahren zu einer abrupten Abkühlung des Klimas gekommen ist. Wissenschaftler/innen diskutieren bei der Konferenz, welche Auswirkungen dies auf die Gesellschaften des Nahen Ostens hatte. Wie neueste Studien zeigen, scheint es nicht zu einer Aufgabe von Siedlungen und zu größeren Wanderungsbewegungen gekommen zu sein. Frühe Ackerbaugesellschaften erwiesen sich vielmehr als relativ widerstandsfähig gegenüber den klimatischen Veränderungen, wie Forscher/innen der britischen University of Reading bei der ICAANE zeigen. 

Bedrohtes Kulturerbe der Menschheit bewahren

Doch nicht nur die Vergangenheit der Kulturen des Nahen Ostens, auch ihre Gegenwart steht im Zentrum der Konferenz an der ÖAW. Denn durch die derzeitigen Konflikte in der Region ist das antike Kulturerbe der Welt massiv bedroht. Zerstörungen von Kulturschätzen, wie dem Tempel des Baalschamin in der syrischen Weltkulturerbestätte Palmyra oder die Sprengung der „Lamassu“, der monumentalen geflügelten Wächterfiguren in der assyrischen Stadt Nimrud im heutigen Irak, aber auch Raubgrabungen und der illegale Handel mit Kunst bedeuten einen enormen Verlust für das kulturelle Gedächtnis der gesamten Menschheit.

„Das Kulturerbe Syriens ist durch den Bürgerkrieg gefährdet, der seit fünf Jahren im Land wütet“, schilderte Maamoun Abdulkarim, Direktor der Antikenverwaltung Syriens, in einer Videobotschaft bei einer Pressekonferenz am 27. April 2016 die dramatische Situation in seinem Land. Zahlreiche Kulturdenkmäler seien durch Raubgrabungen organisierter Banden, kriegerischen Beschuss oder durch ideologisch motivierte Zerstörungen beschädigt worden.

„Die syrische Antikenverwaltung betreibt eine umfangreiche Schadenserfassung“, so Abdulkarim zu den Rettungsmaßnahmen seiner Behörde. Mehr als 450 historische Baudenkmäler seien auf einer Satellitenkarte auf der Webseite der Antikenverwaltung markiert und der Stand ihrer Beschädigung mit Fotos dokumentiert. Auch die Bestände der Museen würden in einer digitalen Datenbank erfasst. Mehr als 250.000 Fotos wurden so seit 2014 gespeichert. Dabei finde der Schutz von Kulturgütern vor Ort teilweise unter Einsatz des eigenen Lebens statt, erklärte Abdulkarim: „Die Mitarbeiter des Palmyra-Museums konnten unter Lebensgefahr nur wenige Stunden bevor der IS Palmyra besetzt hat, 800 Objekte und Statuen aus der Stadt bringen.“

Die Zerstörung von Kulturgütern hätte aber nicht nur eine materielle sondern auch eine symbolische Dimension, erläuterte Margarete van Ess, Wissenschaftliche Direktorin der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts: „Wenn uns die medial gekonnt inszenierten Zerstörungen antiker Bauwerke in Syrien und im Irak derzeit besonders entsetzen, dann weniger wegen der Zerstörung selbst, sondern wegen der dahinter stehenden drastischen Aufkündigung menschlicher Werte, die das Zusammenleben so vieler unterschiedlicher Kulturen seit Jahrtausenden möglich machen.“

Aber es gibt auch Hoffnung, wie Sarkis El-Khoury, Direktor der Antikenverwaltung des Libanon, bei der Pressekonferenz betonte. Er berichtete über die Wirksamkeit transnationaler Kooperation im Kampf gegen den Schmuggel antiker Kunstschätze: „Die libanesische Antikenverwaltung arbeitet im Bereich der Abwehr des illegalen Kulturgüterhandels sehr eng mit der syrischen Antikenverwaltung zusammen und hat wiederholt illegal in den Libanon transferierte syrische Kulturgüter konfisziert und an die Verwaltung in Damaskus überstellt.“

Auch auf einem anderen Feld gebe es Fortschritte, wie ÖAW-Archäologin Barbara Horejs ergänzte. Zahlreiche Initiativen im Bereich der „Digital Humanities“, der digitalen Geisteswissenschaften, digitalisieren Artefakte in 3D und archivieren Bilder sowie Pläne elektronisch um nach dem Ende der Konflikte einen Wiederaufbau zu ermöglichen – oder zumindest die Erinnerung im kulturellen Gedächtnis der Menschheit zu bewahren. Denn, wie van Ess betonte: „Kultur ist eben nicht das Letzte, was angesichts drängenderer Sorgen vernachlässigbar ist, sondern ihre Zerstörung trifft die lokale Bevölkerung und die Weltgemeinschaft direkt ins Herz.“

 

Pressefotos

10th ICAANE
Zeit: 25. bis 29. April 2016
Ort:  Österreichische Akademie der Wissenschaften, Dr. Ignaz Seipel-Platz, 1010 Wien
Programm: www.orea.oeaw.ac.at/10icaane.html

Vienna Statement

Rückfragehinweise

Pressekontakt:
Dipl.-Soz. Sven Hartwig
Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
T +43 1 51581-1331
sven.hartwig(at)oeaw.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:

Prof. Dr. Barbara Horejs
Direktorin des Instituts für Orientalische und Europäische Archäologie
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Fleischmarkt 20-22, 1010 Wien
T +43 1 51581-6101
barbara.horejs(at)oeaw.ac.at

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