11.11.2016

„Unterscheidungen sind Gleichmacher“

Unterschiede müssen wir machen, Identitäten festlegen aber nicht, meint der deutsche Soziologe Stefan Hirschauer im Interview. Er eröffnete die neuen „Lectures zu Gender & Diversity“ an der ÖAW.

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Menschen machen ständig Unterscheidungen. Die berühmt-berüchtigsten sind etwa „wir“ und „die anderen“ oder „Frauen“ und Männer“. Doch welche Funktion haben diese und andere Unterscheidungen überhaupt? Warum werden sie gemacht? Und ginge es vielleicht auch ohne sie?

Solchen Fragen widmet sich der Soziologe Stefan Hirschauer von der Universität Mainz in seiner Forschungsarbeit. Auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) war er am 19. Oktober 2016 in Wien zu Gast, um die neue ÖAW-Reihe „Lectures zu Gender & Diversity“ zu eröffnen.

Im Interview spricht er über den sperrigen Begriff „Humandifferenzierung“, über Kleeblattelternschaften und Gender Studies – und über die Möglichkeit einer „Politik der Indifferenz“.

„Herr Professor Hirschauer“, in dieser Anrede stecken zwei Aussagen, nämlich dass Sie ein Akademiker mit hohem Abschlussgrad sind und ein männliches Wesen. Ist das Ihre Identität?

Stefan Hirschauer: Auf keinen Fall würde ich von Identität sprechen, denn das ist eine schlimme konzeptuelle Krankheit, inklusive der damit verbundenen Politik. Ich bin auch eher irritiert, wenn mich Studierende als „Herr Professor“ anschreiben und fordere sie explizit dazu auf, sich etwas anderes einfallen zu lassen, etwa „Hallo Hirschauer“, „Hallo Prof“ oder sonst etwas.

Warum ist es schlecht, von „Identität“ zu sprechen?

Identität ist der verhärtete Aggregatzustand eines Selbstverständnisses, das insbesondere in politischen Kämpfen entsteht, das heißt unter Profilierungsdruck. Für viele, wie zum Beispiel Schwule vor dem coming out, ist das eine gute Krücke, die man aber nicht für den Normalfall halten sollte. Der Punkt ist, dass die meisten so genannten Normalen aus guten Gründen den Luxus genießen, nicht-identitär zu leben.

Sie benutzen in Ihrem Forschungsprojekt den sperrig klingenden Begriff „Humandifferenzierung“. Was ist damit gemeint: Dass Menschen etwas unterscheiden oder dass Menschen von anderen unterschieden werden?

Beides. Menschen machen sinnhafte Unterscheidungen zwischen allem Möglichen, zwischen Krankheiten, Tieren, Pflanzen und so weiter. Aber die spannendsten Unterscheidungen sind natürlich diejenigen, die die Unterscheider selbst mit sich veranstalten. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu nannte das die „Klassifikation der Klassifizierer.“

Warum ist es so wichtig, auf das Differenzieren, also das „Unterschied machen“ zu fokussieren?

Für alle Menschen existiert die Welt immer nur geordnet durch Wissenssysteme, und Wissenssysteme hängen an Unterscheidungen. Unterscheidungen produzieren Sinn. Während die Naturwissenschaften Dinge brauchen, die sie messen können, also mit Unterschieden arbeiten – etwa Darwin und seine Tierarten auf den Galapagosinseln – ticken die Kulturwissenschaften anders: Sie schauen auf die sinnhaften Unterscheidungen, die man so oder anders ziehen kann. Relevant für unsere Forschung ist außerdem, dass jede Unterscheidung auch etwas gleichmacht. Wenn ich die Schwarzen und die Weißen unterscheide, habe ich implizit behauptet, dass „die Weißen“ eine homogene Menge seien, oder „die Frauen“ und „die Männer“.

Unterscheidungen werden nicht nur gemacht, sondern auch wieder aufgehoben, das „undoing differences“ ist Ihnen wichtig. Welchen Bereich finden Sie selbst besonders spannend?

Im Rahmen unseres Forschungsprojekts beschäftige ich mich mit geschlechtsgleichen Elternschaften. Da werden zum Beispiel „Kleeblattelternschaften“ erfunden mit zwei Schwulen und zwei Lesben, oder „triadische Elternschaften“ mit einer Art onkelhafter Rolle des Samenspenders. Mein Team hat kürzlich zwei Frauen interviewt, die sich die Schwangerschaft körperlich aufteilen – die eine spendet die Eizelle, die andere trägt das Kind aus. Es gibt viele Varianten, in denen Elternschaft neu erfunden wird. Die neuen Lebensformen, die sich da entwickeln, finde ich faszinierend und persönlich noch viel interessanter als die technische Entwicklung in der Reproduktionsmedizin. Es findet eine Revolution der Familie statt, und ich habe das Gefühl, „am Puls der Zeit“ zu sitzen.

Den Gender Studies oder auch den Race Studies wird oft vorgeworfen, dass sie genau jene Kategorien festschreiben, die sie eigentlich abschaffen wollen, weil sie sie immer wieder thematisieren. Was würden Sie diesen Disziplinen raten?

Löst euch auf! Nein, ernsthaft: Es kommt drauf an, wie man diese Wissenschaften betreibt. Ich denke, dass eine gewisse Spezialisierung sinnvoll ist. Wenn sie aber zu stark und vor allem nach politischen Maßgaben betrieben wird, erzeugt sie Schäden, Kontaktabbrüche und Bornierungen. Geschlecht ist ein hochgradig interessanter Fall sozialer Klassifikation. Daher sollte, was in den Gender Studies herausgefunden wurde, in viele andere Felder eingespeist werden und umgekehrt. Erst dann kann man sehen, was Geschlecht ist. Man kann das Phänomen nicht aus der Genderperspektive allein verstehen.

Gibt es aber nicht auch politische Implikationen Ihrer Forschung? Im Moment sind Integration und Migration die brennenden Themen. Was wäre hier der Beitrag Ihres Ansatzes?

Ich denke darüber nach, was eine „Politik der Indifferenz“ bedeuten könnte, in Abgrenzung zur „Identitätspolitik“. Das wäre nicht eine Politik der Anerkennung von Differenz, sondern eine Politik der Absehung von Differenz. Hochgradig interessant am Migrationsphänomen finde ich, dass Vorstellungen von Ethnizität, geografischer Herkunft und Nationalität in den Zuwanderern sozusagen „verschmieren“. Zugehörigkeiten werden hybride, und ich denke, dass das auf eine ähnliche Weise auch bei der Geschlechterdifferenz stattfindet – etwa mit Androgynie, Genderbending, Rollennivellierung – oder bei der Religiosität im Eklektizismus. 

Würden Sie denn sagen, dass man ohne Differenzierungen leben könnte?

Nein, man sollte sich nicht einbilden, dass es ein stereotypenfreies Leben geben könnte, Schemata werden immer eine Rolle spielen, die Frage ist nur: welche und in welchem Ausmaß? Das hängt auch davon ab, wie hoch unsere Fähigkeit ist, Komplexität zu verarbeiten. Können wir damit leben, dass wir Geschlecht nicht sofort zuschreiben? Wie hoch ist unsere Ambiguitätstoleranz? Insofern meint Politik der Indifferenz nicht: „Schleift nieder die kulturellen Differenzen!“ Es geht eher um den Moment des Innehaltens, in dem ich nicht wissen muss, was jemand ist und ob etwas gut oder schlecht ist. Für eine politisierte Weltanschauung ist das schwer auszuhalten, für das Zusammenleben wird es immer unverzichtbarer.

Welche heute noch wichtigen Unterschiede werden in der Zukunft keine Rolle mehr spielen?

Prognosen sind ausgesprochen schwierig, aber ich denke, dass Gender als Unterscheidungskriterium auf dem absteigenden Ast ist. Alter hingegen wird wahrscheinlich eine zunehmende Rolle spielen, etwa weil die Medienentwicklung die Generationen auseinander treibt. Durch Migrationsbewegungen wird Ethnizität hochgespielt werden, die Bedeutung nationalstaatlicher Unterschiede dagegen wird geringer. Aber natürlich kommt es auf die Weltregion an, die Sie betrachten. Außerdem laufen diese Entwicklungen nie linear ab, es gibt immer auch temporär rückläufige Entwicklungen.

 

Stefan Hirschauer ist Professor für Soziologische Theorie und Gender Studies an der Universität Mainz sowie Sprecher des DFG-Forschungsprojekts „Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung“. Zuvor lehrte er an Universitäten in Paris, Wien, Bielefeld, München und an der Cornell University. Er ist Autor und Co-Autor zahlreicher Publikationen und veröffentlichte u.a. „Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel“.

Die „Lectures zu Gender & Diversity“ sind eine neue Vortragsreihe der ÖAW, die der Öffentlichkeit neue Erkenntnisse, Konzepte und Theorien aus der internationalen Gender- und Diversitätsforschung vorstellt.

ÖAW-Lectures zu Gender & Diversity