07.11.2016

Universaler Geist, global vertreten

Leibniz als Systematiker, Denker der Einheit und aktueller Impulsgeber: Zum 300sten Todestag des Philosophen veranstaltete die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) vom 3. bis 4. November das internationale Symposium „Leibniz heute lesen. Wissenschaft, Geschichte, Religion“.

Gottfried Wilhelm Leibniz. Bild: Shutterstock.com
Gottfried Wilhelm Leibniz. Bild: Shutterstock.com

Von Gottfried Wilhelm Leibniz gibt es einige Spuren in Wien, unter anderem einen handgeschriebenen Brief, der sich in der Autografensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek befindet. Hierin bittet der Gelehrte im Jahr 1713 – auf Latein versteht sich – den Bibliothekar der Wiener Kaiserlichen Hofbibliothek, einige Bücher ausnahmsweise ausleihen zu dürfen, weil der Winter lang zu werden drohe. Offenbar war es kalt auf Wiens Straßen.

Ein vergrößertes Faksimile dieses Briefes zeigte Herta Nagl-Docekal, wirkliches Mitglied der ÖAW und Professorin für Philosophie bei ihrer Einleitung zum Symposium. Womit sie einen der Gründe nannte, warum es lohne, Leibniz in Wien zu lesen: der Ortsbezug. Es lohne aber auch, Leibniz hinsichtlich aktueller Wissenschaftsfragen neu zu interpretieren. Oft wird er mit Wehmut als der „letzte Universalgelehrte“ bezeichnet, aber nicht das sei das Wesentliche an diesem Denker, meinte Nagl-Docekal, sondern sein stets systematischer Zugriff auf die Welt. Daher könne Leibniz, obwohl selbst ein empirischer Forscher, zugleich als Kronzeuge gegen eine empiristische Verengung der Wissenschaft gelten. Aktuell sei darüber hinaus auch Leibniz’ Begriff vom Menschen. Immerhin hatte er mit dem Konzept der Monade so etwas wie „Individualität“ ins Spiel gebracht. Er hatte der Psyche eine Art Unbewusstes attestiert und in Bezug auf Religion und Moral viele der späteren Argumente vorweg genommen. Dass die „Monadologie“ unlängst in einer britischen Edition der Reihe „forgotten books“ erschien sei eine bittere Ironie und eigentlich nicht gerechtfertigt, fand Nagl-Docekal.

Denker der Einheit

Was hat Leibniz nicht alles interessiert: Rechenmaschinen und Unterseeboote, die Verbesserung der Nahrungsmittel, die Theodizee und die Gründung einer „Sozietät der Wissenschaften“, auf deren Entwurf die ÖAW zurückgeht. Auf den Universalgelehrten berief sich der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstraß in seinem Festvortrag. Denn in Leibniz liefe noch zusammen, was seither auseinanderfiel: Naturwissenschaft und Philosophie. Mittelstraß beschrieb Leibniz als einen Denker der Einheit, wobei er diese „Einheit“ nicht als metaphysische Spekulation deutete, sondern als Resultat einer logischen Analyse, beziehungsweise einer „logischen Hermeneutik“. Leibniz glaubte an die Einheit von Denken und Welt, die durch eine „mathesis universalis“ zu erschließen sei, so schilderte Mittelstraß. Und er sah die Einheit von theoretischem und praktischem Wissen als „theoria cum praxis“.

Dies sei ein Wissenschaftsideal, das der heute gängigen Trennung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung zuwider laufe. Im tief verstandenen Leibniz’schen Sinn sei Forschung immer angewandt, es gehöre zum Wissen „sich ins Werk zu setzen“, sagte Mittelstraß. So hängen Forschung und Anwendung systematisch zusammen und bedingen sich gegenseitig. Das gelte auch für die Technik, die nicht nur Anwendung von Wissen sei, sondern ihrerseits die Wissensproduktion beeinflusse, wie Mittelstraß am Beispiel CERN verdeutlichte: „Forschung wird auch von unserem technischen Können geleitet.“

Mythen und Begräbnisse

Um Leibniz ranken sich Mythen. Hartnäckig hält sich zum Beispiel das Gerücht, er sei einsam gestorben und „wie ein Straßenräuber“ in Hannover beerdigt worden, wobei nur eine Person, nämlich sein Sekretär Johann Georg von Eckhart, dem Sarg gefolgt sei. Diese Schilderung stimmt nicht ganz, zeigte Wenchao Li in seinem Vortrag, der sich mit den verschiedenen ideologischen Indienstnahmen von Leibniz-Jubiläen beschäftigte. Zum 100sten Geburtstag des Denkers, 1746, reklamierte die Stadt Leipzig ihren Sohn für sich und wollte ihm ein Denkmal setzen. In einer Ode beklagte Johann Christoph Gottsched das einsame Leibniz-Begräbnis im hartherzigen Hannover. 1846, zum 200sten Geburtstag des Philosophen, bemühte man sich, ihn zum Ruhm der deutschen Wissenschaft zu vereinnahmen und 1916, zum 200sten Todestag, kam es zupass, Leibniz als scharfen Kritiker Frankreichs zu präsentieren und als Verkörperung deutscher Tugenden.

Im Jubiläumsjahr 2016 kann Objektiveres und Internationaleres im Mittelpunkt stehen. Da sei zunächst das große Projekt der Leibniz-Edition, die jetzt beim 59. Band angelangt ist, betonte Li. Zum anderen haben sich in den vergangenen Dekaden überall auf der Welt Leibniz-Gesellschaften gegründet, so etwa in China, Japan, Brasilien, Frankreich, Portugal und zuletzt auch in Rumänien. Li zeigte sich zuversichtlich, dass mit der Editionsarbeit und der Internationalisierung der 300ste Todestag des Denkers unter einem besseren Stern stehe als die vorhergegangenen Jubiläen. Leibniz als globaler Geist – diese Perspektive erweist dem Universalgelehrten alle Ehre.

 

Vom 3. bis 4. November 2016 veranstaltete die ÖAW ein internationales Symposium anlässlich des 300. Todestages von Gottfried Wilhelm Leibniz.

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Die ÖAW veranstaltet seit 2005 jährlich eine „Leibniz Lecture“. Als

Vortragende werden international anerkannte Persönlichkeiten eingeladen,

die  –  ganz im Sinne des Leibnizschen Denkens – in ihren Vorträgen das

Differenzierungspotential von Philosophie sowohl für die

interdisziplinäre Verständigung als auch für die Auseinandersetzung mit

öffentlich relevanten Problemstellungen der Gegenwart unter Beweis

stellen.

 

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