15.02.2019

Sprachpuzzle von der Seidenstraße

Sprechen Sie Sogdisch? Vermutlich nicht, denn die Sprache gilt als ausgestorben. ÖAW-Iranistin Chiara Barbati hat sie erlernt und verwendet sie als Schlüssel für die Erforschung der Welt von Händlern und Missionaren, die im Mittelalter entlang der Seidenstraße lebten.

©ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Denkt man an eine tote Sprache, dann ist es wohl Latein, was den meisten Menschen in den Sinn kommt. Von Sogdisch haben wohl die wenigsten gehört. Dabei war die mitteliranische Sprache einst weit verbreitet - und zwar entlang der sogenannten „Seidenstraße“, einem Netz aus Handelsrouten, das in Antike und Mittelalter den Mittelmeerraum mit Ostasien verband. Als Verkehrssprache in Zentralasien und Lingua Franca ermöglichte sie es beispielsweise iranischen und chinesischen Händlern sich zu verständigen. Auch syrische Mönche nutzen das Sogdische um mit den Menschen an der Seidenstraße ins Gespräch zu kommen und sie zum christlichen Glauben zu bekehren.

Für Chiara Barbati vom Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften öffnet die Sprache ein Tor zu einer längst versunkenen Welt. Sie erforscht die raren Manuskripte, die aus dieser Zeit erhalten sind, und vom regen Austausch der Kulturen erzählen - auf einem Gebiet, das heute von Spannungen gezeichnet ist.

Frau Barbati, wie gut verstehen Sie Sogdisch?

Chiara Barbati: Diese Frage stelle ich mir selbst auch oft. Das Sogdische, muss man wissen, ist eine Sprache, deren Zeugnisse von den ersten Jahrhunderten nach Christus bis ins 11. Jahrhundert reichen. Sie stammen aus einem ausgedehnten Gebiet, das sich vom heutigen Usbekistan bis nach China erstreckt, von der Mongolei bis in den Norden Pakistans. Dazu kommt noch, dass das Material oft in einem mehrsprachigen und mehrschriftlichen Zusammenhang überliefert ist. Ich sehe die Erforschung dieser Sprache eher als Puzzle, in das noch viele Teile eingefügt werden müssen.

Wie lernt man eine Sprache, die seit vielen Jahrhunderten niemand mehr spricht?

Barbati: Indem man Texte übersetzt, Schriftsysteme studiert und sich mit der Grammatik beschäftigt. Und: Ich versuche, mir das Sogdische, das heute als „tote“ Sprache gilt, als lebendige Sprache vorzustellen.

Haben Sie eine Vorstellung, wie diese Sprache geklungen haben könnte?

Barbati: Ja, durchaus. Im Sogdischen ist es allerdings nicht immer einfach. Die Sprache ist in verschiedenen Schriften erhalten und in den meisten davon wurden Kurzvokale einfach nicht geschrieben. Wir verdanken vor allem der syrischen Estranghela-Schrift Erkenntnisse über die Quantität und Qualität der sogdischen Vokale.

Ich sehe die Erforschung dieser Sprache als Puzzle, in das noch viele Teile eingefügt werden müssen.

Sogdisch war entlang der Seidenstraße die Sprache der Händler. Haben sich auch Alltagstexte erhalten, Warenbeschreibungen zum Beispiel?

Barbati: Ja, wir haben etwa die „Alten Briefe”. Sie stammen aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. und wurden in einem Wachturm an der Straße zwischen Dunhuang (heutige Provinz Gansu, China) und Loulan (heutige Autonome Region Xinjiang, China) entdeckt. Fünf Briefe sind fast vollständig erhalten, ein sechster in schlechtem Zustand, und dann gibt es noch Bruchstücke. Diese Briefe wurden von sogdischen Händlern an ihre Familien in der Heimatregion rund um Samarkand im heutigen Usbekistan geschrieben. Sie erwähnen Güter wie Gold, Wein, Kampfer – der damals nur aus Indien oder Südostasien bezogen werden konnte –, oder Moschus aus Tibet und dem Gansu-Korridor, sowie Baumwollstoffe und Leinen. Als man die Briefe entdeckte, waren sie noch immer versiegelt. Einer war sogar in Seide eingeschlagen. Ihre Botschaften haben wohl nie den Bestimmungsort erreicht.

Viele der Manuskripte und Fragmente, mit denen Sie sich beschäftigen, haben einen christlichen Inhalt.

Barbati: Ich untersuche derzeit rund 1.000 Manuskriptfragmente in sogdischer und syrischer Sprache und Schrift. Diese Fragmente aus dem 9. und 11. Jahrhundert – Psalter, biblische Lesungsbücher, Heiligenviten, Gebete, Kalender – zählen zum religiösen und kulturellen Erbe des östlichen Christentums. Es gibt auch einen Taufritus in syrischer Sprache, der Anweisungen für den Priester in sogdischer Sprache enthält, oder umgekehrt: ein sogdisches Lesungsbuch mit Kapitelüberschriften in Syrisch.
 


In unseren Breitengraden übersetzte Luther die Bibel erst im 16. Jahrhundert ins Deutsche. Warum übertrug man christliche Texte in Asien schon so früh in eine Alltagssprache?

Barbati: Das syrisch-orientalische Christentum hat seine Wurzeln im 2. Jahrhundert n. Chr. in Edessa, dem heutigen Urfa in der Türkei. Die sich entwickelnde Kirche des Ostens setzte eine intensive Missions- und Evangelisierungstätigkeit in Richtung Iran, Zentralasien, China und Indien in Bewegung. Dieses Christentum wollte sich verständlich machen, und zwar auf vielen Ebenen. Denn das syrisch-orientalische Christentum wurde nie zu einer Staatskirche. Man wollte Missionen gründen und ferne Völker konvertieren. Und dabei musste man sich auch mit weltlichen Herrschern und anderen religiösen Bekenntnissen auseinandersetzen.

Ich untersuche derzeit rund 1.000 Manuskriptfragmente in sogdischer und syrischer Sprache. Sie stammen aus dem 9. und 11. Jahrhundert und zählen zum kulturelle Erbe des östlichen Christentums.

Viele Texte, an denen Sie arbeiten, stammen aus einer Manuskriptbibliothek, die Anfang des 20. Jahrhunderts von einer deutschen Expedition in Bulayïq, in der chinesischen Region Xinjiang ausgegraben wurde. Waren Sie selbst vor Ort? Was sieht man heute dort?

Barbati: Ich konnte Bulayïq 2015 im Rahmen eines APART-Stipendiums der ÖAW besuchen. Der Fundort sieht immer noch so aus, wie ihn die deutsche Expedition vor über 100 Jahren erlebte. Es hat seither keinerlei archäologische Dokumentation oder Untersuchung stattgefunden. Die Manuskriptfragmente wurden nach Berlin gebracht, während man den Fundort nicht weiter untersuchte. Heute ist es ohne diesen Kontext entsprechend schwieriger, die ohnehin bruchstückhaften Manuskripte zu verstehen. Wir sind zwar gewohnt, von Bulayïq als einem „Kloster“ und einer „Klosterbibliothek“ zu sprechen, weil dort christliche Texte gefunden wurden. Aber eigentlich ist die Frage, ob es dort wirklich ein Kloster oder eine Bibliothek gab, völlig offen.

Einige Gebiete der Seidenstraße liegen heute in Kriegs- und Krisenregionen. Sind Sie besorgt um Kulturgüter, die zerstört werden könnten?

Barbati: Mit Sicherheit. Die aktuelle Lage ist nicht die beste, nicht nur entlang der sogenannten Seidenstraße. Persönlich hoffe ich, dass die Dialogbereitschaft erhalten bleibt, und setze mich für eine Haltung der Öffnung, nicht der Abschottung ein. Gerade wir Wissenschaftler können mit unserer Arbeit einen Beitrag zum Dialog leisten, der wechselseitigen Respekt und gegenseitiges Verständnis bedingt.

 

Chiara Barbati studierte Indo-Europäische Sprachen und Iranistik an der Universität La Sapienza in Rom. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wechselte sie ans Institut für Iranistik der ÖAW. Dort wurde sie unter anderem mit einem APART-Stipendium der ÖAW und durch das Lise Meitner Programm des Wissenschaftsfonds FWF gefördert. Neben ihrer Forschungstätigkeit in Wien unterrichtet sie auch an der Universität Pisa.

Das Projekt „Schreibgewohnheiten. Christliche Manuskriptkultur im mittelalterlichen Zentralasien“ wird vom FWF finanziert und ist Anfang 2018 gestartet.

Infos zum Projekt

Institut für Iranistik der ÖAW