30.11.2015

Massen in Bewegung

Young Academics: Wie ÖAW-Forscherin Marie-Therese Wolfram mithilfe von Mathematik die Dynamik von Fußgängerströmen untersucht.

Bild: Wikimedia/CC
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Die Dynamik großer Menschenansammlungen hat Marie-Therese Wolfram schon immer fasziniert. Seien es die Beschreibungen von Elias Canetti in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ oder ihre persönlichen Erfahrungen – etwa der Versuch durch die  Menschenmassen am Flughafen von Jeddah in Saudi Arabien während der Hadj, der Pilgerfahrt nach Mekka, zu kommen.

„Der Begriff Masse erweckt allgemein eher negative Assoziationen, wie Massenpanik oder die Verbreitung von Massenmeinungen. Massen gelten als dumm. Das stimmt nicht. Videoaufzeichnungen von der Love Parade in Düsseldorf oder dem 11. September haben gezeigt, dass Menschen auch in extremen Situationen sozial handeln, kooperieren und versuchen sich gegenseitig zu helfen“, sagt Marie-Therese Wolfram. Die Mathematikerin leitet am Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) seit 2013 eine „New Frontiers“-Forschungsgruppe, die sich der mathematischen Modellierung von Bewegungen innerhalb einer Masse, wie Fußgängerströmen, der Zellbeweglichkeit oder Tierherden, widmet. Ziel ist, zu verstehen, wie sich Interaktionen auf der Mikroebene auf die Bewegung der gesamten Gruppe auswirken.

Videosimulationen von Fußgängerbewegungen

So wurden in einer Studie zur Bewegungsdynamik von Fußgängern, die vor kurzem als Paper veröffentlicht wurde, mithilfe von Videodaten solche Interaktionen genauer beobachtet. Die daraus abgeleiteten Regeln dienen als Basis für die von Wolfram und ihren Kollegen/innen entwickelten mathematischen Modelle, die die Dynamik der gesamten Gruppe beschreiben. „Wenn ich zum Beispiel jemanden vor mir habe, der in die gleiche Richtung geht, dann werde ich dieser Person mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit folgen. Wenn mir jemand entgegen kommt, weiche ich entweder nach links oder rechts aus“, erläutert Wolfram und ergänzt: „Je nachdem ob ich Kontinentaleuropäer oder Brite bin.“ Diese einfachen Mechanismen überträgt die Forschungsgruppe dann auf die Makroebene, um mit Gleichungen das Verhalten der gesamten Verteilung von Menschen zu beschreiben. Ein weiterer Aspekt ihrer Arbeit ist es, das Verhalten dieser Gleichungen, sogenannter partieller Differentialgleichungen, zu verstehen – etwa mit Hilfe mathematischer Methoden als auch durch Computersimulationen. Dabei interessiert sich Wolfram zum Beispiel dafür, unter welchen Bedingungen es zur „lane formation“, also zum Auftreten von Richtungsbahnen kommt, in denen sich Leute in die gleiche Richtung bewegen.

Work-Life-Balance berechnen

Marie-Therese Wolfram liebt an ihrem Fach die Klarheit von Strukturen und Aussagen. Und, dass es in der angewandten Mathematik immer einen Bezug zum wirklichen Leben gibt. So lassen sich neben den Bewegungen von Fußgängergruppen auch andere Dynamiken des Alltags mathematisch beschreiben: Meinungsbildungsprozesse, Preisentwicklungen oder die Work-Life-Balance.

Letzteres funktioniert, indem das Wachstum in einer Gesellschaft mit dem Wissenslevel des Einzelnen in Verbindung gebracht wird. So hat jeder Arbeitnehmer die Möglichkeit sich die Zeit so einzuteilen, dass er oder sie entweder lernt (durch Informationsaufnahme in der Interaktion mit anderen) oder arbeitet (und dabei Güter produziert). Die Zeit des „Lernens“, d.h. die Interaktionen von Individuen, berechnen die Mathematiker/innen mit einer sogenannten Boltzmann-Gleichung. Diese ist benannt nach dem Wiener Physiker Ludwig Boltzmann und diente ursprünglich dazu die statistische Verteilung von Teilchen in einem Medium zu beschreiben. In der Physik kann man damit auf der Basis einzelner Atom-Kollisionen das Verhalten der Gesamtströmung eines Gases mathematisch hochrechnen und damit auch vorhersagen. Im sozialwissenschaftlichen Kontext entsprechen diese Atom-Kollisionen den Interaktionen von Individuen. Treffen zwei  Personen in einer sogenannten „Kollision“ aufeinander, tauschen sie Information aus und eignen sich dadurch neue Fähigkeiten an. Dadurch erhöht sich die Produktivität des Einzelnen, was sich wiederum auf die Gesamtleistung einer Gesellschaft auswirkt. Die Interaktionsrate – also die Frequenz mit der Personen zusammentreffen – wägt dabei jeder Einzelne selbst ab, indem er oder sie entscheidet, wie viel Zeit in Lernen oder Arbeit investiert wird. 

Interdisziplinär und International

Überschneidungen ihrer Forschungsprojekte mit anderen Wissenschaften sind von Wolfram übrigens beabsichtigt. „In den letzten Jahren hat es eine deutliche Annäherung zwischen der angewandten Mathematik und den Geisteswissenschaften als auch den Wirtschaftswissenschaften gegeben“, sagt die vielseitig interessierte RICAM-Forscherin. Mit ihren 33 Jahren ist Wolfram eines der jüngsten Mitglieder der Jungen Kurie der ÖAW und tauscht sich auf deren interdisziplinären Veranstaltungen regelmäßig mit anderen jungen Forscher/inne/n aus. Dadurch kann sie sich Anregungen aus den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten wie etwa der Philosophie, Physik oder Soziologie holen.

Am Anfang ihrer Forscherkarriere stand übrigens ein Schuljahr in den USA. In den dortigen Science Classes hatte die gebürtige Wienerin die Möglichkeit eigene Experimente durchzuführen, in denen sie beispielsweise die Gravitationskonstanten ermittelte oder etwa Mendels Vererbungslehre beim Kreuzen von Fruchtfliegen „überprüfte“. Für die damals sechzehnjährige Austauschschülerin legte dieser Unterricht den Grundstein für ihre Faszination am Forschen. „Mir in Experimenten Dinge selbst zu erarbeiten – die grundlegenden Naturgesetze zu verstehen, mathematisch zu formulieren und ihre Implikationen zu analysieren – das hat mir große Freude bereitet.“ Nach dem Mathematikstudium kam Wolfram über Stationen in Cambridge und der Universität Wien als Senior Scientist ans RICAM der ÖAW. Dort leitet sie die Forschungsgruppe “Multiscale modeling and simulation of crowded transport in the life and social sciences”, in der in verschiedenen Projekten zu Bewegungsdynamiken geforscht wird.

Welche Fragen sie als nächstes reizen? „Da gibt es viele … etwa wie wirkt sich Musik auf unsere Bewegung aus? Musik wird seit Jahrhunderten genutzt, um Bewegungsabläufe zu synchronisieren. Etwa beim Marschieren oder bei Arbeitsliedern“, meint Wolfram. Und dabei spricht sie aus Erfahrung. Denn wenn die Mathematikerin nicht gerade Bewegungsabläufe erforscht, ist sie meist selbst in Bewegung. Und singt, wenn sie bei ihren Skitouren und Läufen müde wird, um das Tempo zu halten oder einen guten Rhythmus beim Abfahren zu finden.