21.12.2016

Kristalline Städte

Ist Wien flüssig oder solide? Damit ist nicht die Finanzlage, sondern die Materialität der Stadt gemeint. Der Physiker Franz-Josef Ulm stellte bei der ersten „Viktor Kaplan Lecture“ der ÖAW verblüffende Zusammenhänge zwischen Materialwissenschaft und Städteplanung vor.

Bild: Shutterstock.com

Gebäude in einer Stadt sind angeordnet wie Atome in Glas, Flüssigkeiten oder Kristallen. So lautet die Erkenntnis des deutschen Materialforschers Franz-Josef Ulm. Wie man mit diesem Wissen Städte energieeffizienter und widerstandsfähiger gegenüber Naturkatastrophen machen könnte, erzählte der Physiker im Rahmen der ersten „Viktor Kaplan Lecture“ am 14. Dezember 2016 im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Flüssiges Wien?

„Ist Wien flüssig oder solide?“ Mit dieser Frage eröffnete Franz-Josef Ulm seinen Vortrag – und meinte damit nicht etwa die finanzielle Lage der Stadt. Vielmehr stellte er zur Debatte, ob die bauliche Struktur Wiens kristallin angeordnet ist, das heißt klar strukturiert, oder amorph, also unstrukturiert.

Für einen Materialphysiker wie den am US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology tätigen Ulm steckt dahinter mehr als ein reines Gedankenspiel. Denn die „molekulare Struktur“ von Städten beschäftigt Ulm in seiner Forschung bereits seit vielen Jahren. Das beginnt zunächst beim Material selbst. Beton zählt etwa zu den weltweit am meisten verbrauchten Materialien für den Städtebau – mit steigender Tendenz. Denn bis zum Jahr 2050 werden voraussichtlich 6,7 Milliarden Menschen in Städten leben.

„Wir haben erst 2009 herausgefunden, wie die Molekularstruktur von Beton aussieht“, erzählte Ulm. Dabei habe sich gezeigt, dass diese hinsichtlich des CO2-Ausstoßes bei der Produktion nicht ideal ist. Hier könne die Materialphysik zu einer Verbesserung beitragen: „Würde man Beton auf molekularer Ebene ändern, hätte das einen direkten Einfluss auf den ökologischen Fußabdruck von Beton.“

Hochwasser, Stürme oder Smog

Bei der Analyse der Strukturen von Materialien im Städtebau ist Ulm und einem Kollegen dann die Idee gekommen, die gewonnenen Modelle auch auf die Städte selbst zu übertragen: „Man erkennt schon visuell, dass manche Städte rasterförmig, kristallin angelegt sind und andere eher amorph.“ Für den Energieverbrauch in einer Stadt mache es beispielsweise einen großen Unterschied, wie viele Nachbarhäuser in welcher Höhe sich in unmittelbarer Umgebung zueinander befinden. In der Atomphysik wird diese Distanz mit der sogenannten „radialen Verteilungsfunktion“ berechnet. Ulm wandte die Formel auf Städte an, um herauszufinden, wie sich vermeiden lässt, dass sich Stadtzentren im Sommer stark erhitzen und die Gebäude deshalb vermehrt klimatisiert werden müssen.

Auch bei der Frage, wie sich Städte effizienter gegen Sturm, Hochwasser oder Smog rüsten können, kann ein Blick auf molekulare Strukturen weiterhelfen. Dringt Wasser beispielsweise in eine stark ungeordnete, strukturell eher glasförmige Stadt wie New York oder eine gasförmige Stadt wie London ein, fließt es nur schwer ab. Wien hat, und damit beantwortete Ulm schließlich seine eingangs formulierte Frage, hingegen zwei Gesichter: Aus der Ferne betrachtet ist die Stadt gasförmig und unkorreliert, aus der Nähe jedoch flüssig. Die nüchterne Erkenntnis: Hochwasser wäre aufgrund dieser Struktur nur schwer unter Kontrolle zu bringen.

Ein Gegenbeispiel dazu sieht Ulm in Chicago, das laut dem Materialexperten wie das atomare Raster eines Kristalls sehr geordnet sei, sodass überschüssiges Wasser schneller abfließe. Ganz ideal ist diese Struktur freilich auch nicht: Denn bei Sturm sei der Druck, der auf Gebäuden laste, umso höher, je geordneter die Stadt sei. Ulm: „Bei Chicago muss ich dann eine höhere Druck-Belastung ansetzen, damit die Gebäude schweren Stürmen standhalten.“

Urbane Physik

An möglichen Anwendungen aber auch an weiteren Fragen für die Grundlagenforschung mangelt es in der sogenannten urbanen Physik jedenfalls nicht. So werden neben der Struktur einer Stadt auch bereits die Struktur einzelner Gebäude und das bei ihnen verarbeitete Materials unter die Lupe genommen. „Man bekommt die ganze Physik hinein, egal ob das jetzt Flüssigkeiten sind oder Gas auf unterschiedlichen Levels“, so „Stadtphysiker“ Ulm. Gleichzeitig betont er aber auch die Grenzen einer urbanen Physik. Für ein soziales Stadt-Engineering, also das Ziel, Städte so zu bauen, dass beispielsweise weniger Überfälle passieren oder es mehr offene, kreative Begegnungsmöglichkeiten gibt, sei sein Fach nicht geeignet. Denn hier sind nicht Materialien entscheidend, sondern der Mensch.

 

Franz-Josef Ulm ist Professor am Department of Civil and Environmental Engineering des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA. Der deutsche Ingenieur, Physiker und Materialwissenschaftler befasst sich in seiner Forschung mit der Mechanik und Struktur von Materialien. Am 14. Dezember 2016 eröffnete er die „Viktor Kaplan Lectures“ an der ÖAW.

Die Viktor Kaplan Lectures widmen sich 2016 und 2017 aktuellen Entwicklungen und Durchbrüchen in den Technikwissenschaften. Sie sind benannt nach dem österreichischen Ingenieur und Erfinder der Kaplan-Wasserturbine Viktor Kaplan (1876–1934).

  VIKTOR KAPLAN LECTURES DER ÖAW