09.08.2019 | Sommerserie: Neue Mitglieder

EINTAUCHEN IN DIE WELT MESOPOTAMIENS

3.000 Jahre alte Tontafeln mit Texten in Keilschrift ermöglichen der Assyriologin Nicla De Zorzi neue Einblicke in die längst untergegangenen Kulturen der Assyrer und Babylonier. Das neue Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW will Wissen, wie die damaligen Menschen die Welt gesehen haben.

© ÖAW

Nicla de Zorzi ist gewissermaßen eine Pionierin in ihrem Forschungsbereich. Dabei hat es die gebürtige Italienierin mit Quellen zu tun, die schon mehrere Jahrtausende auf dem Buckel haben. Sie erforscht Texte aus dem alten Mesopotamien, die im 1. Jahrtausend v. Chr. von Menschen in Tontafeln geritzt wurden. Das besondere daran: „Das Denken in der mesopotamischen Kultur war stark analogistisch geprägt, viel stärker, als wir uns das heute in unserer Gesellschaft vorstellen können“, erklärt De Zorzi.

Dieses Denken in Analogien tritt vor allem bei Wahrsagetexten zum Vorschein. Diese seien immer in einer Wenn-Dann-Logik aufgebaut. Zum Beispiel: Wenn sich ein Rabe in das Haus eines Kranken verirrt, dann kann dieser auf rasche Genesung hoffen. Durch die Analyse solcher „Omen“ aber auch anderer Analogien in den alten Texten will De Zorzi, die seit heuer Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist, der Frage auf die Spur kommen, wie die damaligen Menschen dachten und ihre Welt sahen. Denn in ihrem Fach der Assyrologie, so De Zorzi, „sind noch so viele Themen und Quellen offen, die nur darauf warten, untersucht zu werden.“

„Repetition, Parallelism and Creativity: An Inquiry into the Construction of Meaning in Ancient Mespopotamian Literature and Erudition“ – Ihr Projekttitel klingt erstmal etwas abstrakt. Womit genau befassen Sie sich in Ihrer Arbeit?

Nicla De Zorzi:  Meine Arbeit greift die Idee auf, dass verschiedene Arten von strukturellen Wiederholungen in gelehrten Texten des Alten Mesopotamien einen Hinweis auf das zugrunde liegende Weltbild dieser Kultur geben. Diese Wiederholungen gehen auf eine für Mesopotamien typische Kulturtechnik zur Erfassung und Gewinnung von Bedeutung und Sinn zurück, die auf analogistischem Denken beruht. Man notiert Ähnlichkeiten zwischen Konzepten, Ideen, Dingen, Wörtern und geht davon aus, dass von den beobachtbaren Ähnlichkeiten auf weitere Übereinstimmungen, die man nicht direkt beobachtet, geschlossen werden kann. Indem sie dies als literarische Technik fassen, erarbeiteten sich mesopotamische Gelehrte – so meine These – systematisch ihre Vorstellung von der Welt und deren inneren Zusammenhängen.

Wie kann man sich diese strukturellen Wiederholungen in Texten genau vorstellen?

De Zorzi:  Das Denken in der mesopotamischen Kultur war stark analogistisch geprägt, viel stärker, als wir uns das heute in unserer Gesellschaft vorstellen können. Eine analogistische Weltsicht besagt, dass ähnliche Dinge (und Wörter) in einem unendlichen System miteinander verbunden sind und aufeinander wirken. Man sah in Analogien auch eine Verbindung zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter. Wenn also in Aspekten ähnliche Dinge einander gegenübergestellt werden, meint man systematisch vom einen auf das andere schließen zu können.

Ein Beispiel für ein Omen aus meinen Quellen lautet: „Wenn die Leber des geopferten Schafes eine sichelförmige Vertiefung hat, bedeutet das die Umzingelung der Stadt durch den Feind“. 

Haben Sie ein Beispiel für einen solchen Analogismus?

De Zorzi:  Besonders deutliche Beispiele für analogistisches Denken in der Literatur finden sich in den divinatorischen Texten, also Wahrsagetexten, die ich untersuche. Diese Vorhersagen sind immer gleich aufgebaut, nämlich aus Wenn-dann-Sätzen. Verbunden werden stets imaginierte Ereignisse, die als mögliche Zeichen der Götter gesehen werden, und den daraus über Analogismen ableitbaren Konsequenzen. Wir nennen solche Sätze „Omen“. Ein Beispiel für ein solches Omen aus meinen Quellen lautet übersetzt etwa: „Wenn die Leber des geopferten Schafes eine sichelförmige Vertiefung hat, bedeutet das die Umzingelung der Stadt durch den Feind“.

Wie hängen die Leber eines Schafes und die Belagerung durch den Feind zusammen?

De Zorzi:  Die Analogismen, die ich untersuche, können ganz unterschiedlich sein. Manchmal besteht der Parallelismus darin, dass Wörter ähnlich klingen oder eine gleiche grammatikalische Form aufweisen. Viele basieren aber auf einem semantischen Parallelismus. Die Wortbedeutung ist hier ausschlaggebend. In unserem Beispiel besteht der Parallelismus darin, dass die Einbuchtung in der Leber in Form einer Sichel auf die ebenfalls sichelförmig beginnende Einkreisung einer Stadt durch sich nähernde Truppen verweist. Einbuchtung und Belagerungswall sind beide rund, also ähnlich. Daher vermutet man, dass das Auftreten des einen das zukünftige Auftreten des anderen bedeutet.

Welche Texte ziehen Sie für Ihre Untersuchung heran?

De Zorzi:  Ich untersuche drei verschiedene Textsorten der gelehrten mesopotamischen Literatur des 1. Jahrtausends vor Christus: Literarische Texte, magische Texte, wie etwa Zaubersprüche, und divinatorische Texte. Meine Quellen sind Tontafeln, die mit Keilschrift in Babylonisch beschrieben sind. Die meisten dieser Tafeln stammen aus der Bibliothek des Assurbanipal, einem assyrischen König aus dem 7. Jahrhundert vor Christus. Sie wurden von Archäologen im alten Ninive gefunden, das damals Hauptstadt des Assyrischen Reiches war. Heute liegen die meisten Tafeln im British Museum. Ich reise immer wieder nach London, um an ihnen zu arbeiten.

 

Meine Quellen sind Tontafeln, die mit Keilschrift in Babylonisch beschrieben sind. Die meisten dieser Tafeln stammen aus der Bibliothek des Assurbanipal, einem assyrischen König aus dem 7. Jahrhundert vor Christus.

Sie bleiben mit Ihrer Forschung aber nicht bei Texten aus dem alten Mesopotamien. Am Ende Ihres Projektes steht auch ein Vergleich mit Texten anderer antiken Kulturen.

De Zorzi:  Ich möchte meine Forschungsergebnisse aus der mesopotamischen Literatur mit biblischen Texten und mit der Literatur des chinesischen Altertums vergleichen. Das alte China des 1. Jahrtausends vor Christus wies ebenfalls eine stark analogistisch geprägte Denkweise auf, hatte ähnliche politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie Mesopotamien und verfügte ebenfalls über eine eigene Elite an Gelehrten, die sich mit der Produktion von Texten beschäftigte. Meine Überlegung ist, dass sich in einem ähnlichen Umfeld eventuell ähnliche Methoden des Denkens und in der Folge des Schreibens entwickelt haben könnten.

Was fasziniert Sie eigentlich besonders an der Assyriologie?

De Zorzi:  Begonnen hat mein Interesse für diese Themen schon ganz zu Beginn meines Studiums, im ersten Jahr an der Universität in Venedig, als ich eine Lehrveranstaltung zur antiken Literatur des Nahen Ostens besuchte. Das Feld der Assyriologie ist ein besonders dynamisches. Es erlebt gerade eine Blüte und trotzdem sind noch so viele Themen und Quellen offen, die nur darauf warten, untersucht zu werden. Man hat viel Freiheit, sich als Wissenschaftlerin zu verwirklichen. In vielerlei Hinsicht hat unsere Arbeit Pioniercharakter.

 

AUF EINEN BLICK

Nicla De Zorzi studierte Assyrologie und klassische Philologie in Venedig, wo sie 2011 promovierte. Anschließend forschte sie an der Universität München, ehe sie 2014 an die Universität Wien berufen wurde. 2018 erhielt sie einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (European Research Council – ERC). Anfang 2019 wurde sie zum Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW gewählt.

Die Junge Akademie der ÖAW besteht aus bereits etablierten Nachwuchswissenschaftler/innen aller Fachrichtungen und hat bis zu 70 Mitglieder. Diese bilden die Stimme einer jungen Generation in der Wissenschaft und setzen sich für interdisziplinären Austausch und die Identifizierung innovativer Forschungsfelder ein.