22.05.2020 | Ethik im Ausnahmezustand

„Ein Appell, die Freiheit verantwortungsvoll zu nutzen“

Shutdown, Quarantäne, Corona-App. Vor welche ethischen Herausforderungen uns die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie stellen und welche Eingriffe sie in unsere Grundrechte bedeuten, erklärt die Moraltheologin Sigrid Müller, Mitglied der Ethikkommission der ÖAW.

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Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bringen teilweise gravierende Einschnitte in unsere Grundrechte mit sich – und werfen viele ethische Fragen auf. Inwiefern die Notverordnungen gerechtfertigt sind, wer in der Krisenbewältigung übersehen wurde und wie viel Eigenverantwortung im Umgang mit COVID-19 jetzt gefragt ist, darüber spricht die Moraltheologin Sigrid Müller. Das Mitglied der Ethikkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), hält eine kritische und differenzierte Diskussion für wichtig. Das betreffe auch und gerade Fragen der Überwachung mittels Corona-App. Denn: „Wir haben über die sozialen Medien, Smartphones und Überwachungskameras schon sehr viel von unserer Freiheit aufgegeben, oft ohne es zu merken.“

Inwiefern lassen sich die Eingriffe in unsere Grundrechte, wie Bewegungsfreiheit oder das Recht auf Familienleben, ethisch vertreten?

Sigrid Müller: Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Der Shutdown hatte das Ziel, Kontakte drastisch zu vermeiden, um die Kurve der Infektionen abzuflachen.  Die verhängten Maßnahmen zeigten die Dringlichkeit der Ansteckungsgefahr auf. Das war zu Beginn gerechtfertigt. Denn: Im Vordergrund stand nicht die persönliche Dimension, sondern die gesellschaftliche. Da war die Angst, dass es zu einer Überbelastung des Gesundheitswesens kommen könnte und wir – wie in Italien – keine Kapazitäten mehr haben würden, um all die kranken Menschen zu versorgen.

Jetzt wissen wir, dass wir über ausreichend Kapazitäten verfügen, solange wir uns an gewisse Regeln halten. Aber natürlich muss man auch kritisch nachfragen: Wen betreffen diese Maßnahmen tatsächlich? Was ist mit jenen, die kein Homeoffice machen können oder mit jenen, für die die Einhaltung des Sicherheitsabstands keine Option ist?

Die Corona-Krise könnte ein Anstoß sein, darüber nachzudenken, wie man für Benachteiligte gleiche Chancen schaffen kann.

Welche Teile der Gesellschaft wurden in der Krisenbewältigung wahrgenommen – und wer wurde übersehen?

Müller: Erst in der Krise haben wir begonnen, über jene Berufsgruppen nachzudenken, die unsere Grundversorgung darstellen. Menschen in Pflegeberufen oder an Supermarktkassen werden nun anders gesehen und wertgeschätzt. Jetzt spüren wir, wie sehr wir einander brauchen.

Übersehen werden aber Menschen, die zusammengepfercht leben müssen, etwa in den Zeltlagern für Geflüchtete. Oder weltweit gesehen: die Situation der Tagelöhner, die während des Shutdowns kein Geld für Essen verdienen und hungern müssen. Wenig wahrgenommen wird auch die Situation von obdachlosen Menschen und Arbeitslosen. Bedroht ist auch die Existenzgrundlage von Künstlerinnen und Künstlern, die jetzt für einen längeren Zeitraum nicht auftreten können. Und vor allem Kinder, die in prekären Situationen oder sozial benachteiligt aufwachsen, sind von den Schulschließungen hart getroffen.

Die Corona-Krise verdeutlicht also die Bruchstellen unserer Gesellschaft?

Müller: Prekäre Verhältnisse werden sichtbarer. Die Frage ist, welche Konsequenzen dieses neue Bewusstsein hat. Wie kann man diese Aufmerksamkeit jetzt nutzen? Die Corona-Krise könnte ein Anstoß sein, darüber nachzudenken, wie man für Benachteiligte gleiche Chancen schaffen kann. Unmittelbar geht es darum, den Betroffenen zu helfen. Mittelfristig müssen wir überlegen, wie wir strukturell etwas verbessern und verändern können – auch für den Fall, dass ein ähnliches Virus wiederkommt.

Es muss darauf geachtet werden, dass die Einschränkungen zeitlich befristet sind und wieder rückgängig gemacht werden.

Wie lässt sich der Schutz der Bewegungsfreiheit mit der derzeit diskutierten Einführung der Corona-App vereinen?

Müller: Wir haben über die sozialen Medien, Smartphones und Überwachungskameras schon sehr viel von unserer Freiheit aufgegeben, oft ohne es zu merken. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit diesen Fragen konfrontieren – auch damit die jüngere Bevölkerung sensibel dafür wird. Bei der Debatte um die Corona-App ist wichtig, welchen Zweck sie tatsächlich hat und ob sie nur dafür eingesetzt werden kann. Wenn wir uns vernünftig bewegen, wissen wir ja, wo wir waren und mit wem wir Kontakt hatten. Die App soll nämlich kein Überwachungs-, sondern nur ein Informationssystem sein.

Die öffentliche Debatte wirkte anfangs weitgehend paralysiert. Besteht die Gefahr, die Pandemie zu verharmlosen, wenn man Kritik an den Maßnahmen übt?

Müller: Natürlich ist es wichtig, die Maßnahmen kritisch zu reflektieren und öffentlich zu debattieren. Es muss darauf geachtet werden, dass die Einschränkungen zeitlich befristet sind und wieder rückgängig gemacht werden. Politische Diskussion und Kontrollinstanzen sind notwendig. In unserem Nachbarland kann derzeit beobachtet werden, wie einfach Notmaßnahmen demokratische Elemente abschaffen und diktatorische Züge unterstützen können.

Stichwort soziale Isolation. Müssen wir uns darauf einstellen, dass wir Großeltern erst dann wieder treffen können, wenn es einen Impfstoff gibt?

Müller: Diese Aussage setzt voraus, dass es in absehbarer Zeit einen Impfstoff geben wird. In der Zwischenzeit müssen wir aber nach Wegen suchen, wie wir menschliche Kontakte pflegen und dabei gewisse Sicherheitsmaßnahmen einhalten können – für Ältere wie auch für Jüngere. Denn: Es gibt Jüngere, die ernsthaft erkranken können, und Ältere, die eine Infektion wegstecken können. Und: Es gibt ältere Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben und nicht alleine sein wollen. Andere wiederum wollen möglichst große Sicherheit haben und die Isolation aufrechterhalten.

Ich gehe von einem ethischen Freiheitsbegriff aus, wonach Freiheit nicht Willkür bedeutet, also nicht tun und lassen zu können, was man will.

Die Lösung zur Bewältigung der Krise besteht schließlich darin, einander fernzubleiben, oder?

Müller: Man müsste andersrum denken: Wie können wir wieder Menschen begegnen, die uns wichtig sind? Wie können auch Risikogruppen am Leben teilnehmen? Ja, mit Sicherheitsabstand.  Aber was wir generell sagen können: Menschen brauchen Gemeinschaft. Sie brauchen Natur, Bewegung – und auch Berührungen, um sich wohlzufühlen. Auch diese Aspekte sind wichtig für die Gesundheit, um Lebensfreude zu tanken und die Abwehrkräfte zu steigern.

Ein Teil der Notverordnungen wurde jetzt gelockert. Wie blicken Sie auf die Eigenverantwortung der Menschen im Umgang mit COVID-19?

Müller: Da gilt es, die Balance zu halten. Handeln die Menschen nicht verantwortlich, sondern agieren egoistisch, leiden alle darunter – und dann müssen wieder drastische Maßnahmen eingeführt werden. Ich gehe von einem ethischen Freiheitsbegriff aus, wonach Freiheit nicht Willkür bedeutet, also nicht tun und lassen zu können, was man will.

Freiheit heißt, dass ich verantwortlich nach moralischen Gesichtspunkten handle. Wenn sich die Menschen daran halten, kann man viel mehr Freiräume ermöglichen, als wenn man davon ausgehen muss, dass Menschen nur ichbezogen handeln. Das ist ein Appell, die Freiheit verantwortungsvoll zu nutzen.

 

AUF EINEN BLICK

Sigrid Müller ist Lehrstuhlinhaberin für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie Mitglied der Ethikkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.