12.12.2016

„DAS AMERIKA“ GIBT ES NICHT

Man müsse sich mit den USA in ihrer ganzen Vielschichtigkeit auseinandersetzen, um weder in einen pauschalen Antiamerikanismus zu verfallen, noch alles unreflektiert zu übernehmen, sagt Sophie Loidolt. Die Philosophin forscht zu Hannah Arendt, deren Denken im amerikanischen Exil neue Impulse erhielt. Welche das waren, erzählte Loidolt kürzlich bei einer Konferenz der ÖAW.

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Ob Ernest Hemingway, Billy Wilder oder Hannah Arendt – der kulturelle Austausch zwischen Europa und Nordamerika hat eine lange Tradition. Einen Höhepunkt erreichte er während des Zweiten Weltkrieges, als jüdische und antifaschistische Intellektuelle auf der Flucht vor den Nationalsozialisten den Atlantik überquerten. Bei einer internationalen Konferenz der Kommission „The North Atlantic Triangle“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurde der transatlantische Ideenaustausch im 20. Jahrhundert näher beleuchtet.

Unter den Konferenzgästen war auch die Wiener Philosophin Sophie Loidolt. Sie spricht im Interview darüber, wie sich europäische Tradition und amerikanische Ideen im Denken der Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt gegenseitig befruchtet haben, was wir heute von den USA lernen können und erklärt, warum es „das Amerika“ nicht gibt.

Hannah Arendt flüchtete 1941 in die USA. Wie nahm sie das Land wahr?

Sophie Loidolt: Hannah Arendt war ein staatenloser Flüchtling, als sie im Mai 1941 in den Vereinigten Staaten ankam. Die Erfahrung des politischen und moralischen Zusammenbruchs in Europa unter der totalitären Herrschaft der Nationalsozialisten war prägend für ihre Wahrnehmung des politischen Lebens in ihrer neuen Heimat. Von Anfang an war sie beeindruckt davon, wie sich die Bürger/innen der USA für Politik und den öffentlichen Raum verantwortlich fühlten.

Obwohl sie einen Grundwiderspruch zwischen „politischer Freiheit“ und „gesellschaftlicher Knechtschaft“ beobachtete, war sie inspiriert von der aktiven bürgerlichen Beteiligung am politischen Prozess und vom Geist der Republiksgründung durch die „Founding Fathers“, die das Gemeinwesen nicht auf Blutsbande und Volkszugehörigkeit gegründet hatten, sondern durch den politischen Zusammenschluss freier und gleicher Menschen. Sie hielt zwar niemals mit Kritik an der US-Politik – von McCarthy bis Nixon und Vietnam – hinter dem Berg, verstand sich aber als überzeugter „US-Citizen“, der sie seit 1951 auch offiziell war.

Arendt hatte die Erfahrung mit einer Diktatur im Gepäck.

Loidolt: Und sie versuchte aufgrund dieser totalitären Erfahrung das Politische neu zu denken. Ausgangspunkt war die menschliche Pluralität. Darin sieht sie nicht nur die Bedingung, sondern auch die Erfüllung politischen Handelns. Denn nur mit anderen, im gemeinsamen Interagieren und Debattieren über politische Anliegen, entsteht ein Handlungsraum, der uns erlaubt, die Welt zu gestalten und in die Vielfalt der Perspektiven aufscheinen zu lassen. Politik ist daher nicht bloß die Organisation eines großen Haushalts, in dem zweckrational auf alle möglichen Zwänge reagiert wird, sondern eine in sich sinnvolle Tätigkeit, in der Freiheit, Individualität, Verschiedenheit und Gemeinsamkeit erst konkret erfahrbar werden.

Inwiefern haben die USA Arendts politisches Denken beeinflusst?

Loidolt: Bei den „Founding Fathers“ wie James Madison oder Thomas Jefferson sah Arendt den Pluralitätsgedanken verwirklicht – im Gegensatz zur klassischen und auch politischen Philosophie, die immer nur „den Menschen“ und nie „die Menschen“ im Plural denkt. In einem Brief an den Religionshistoriker Gershom Scholem schreibt Arendt einmal, dass sie, wenn irgendwoher, aus der Tradition der deutschen Philosophie komme. Die politische Theorie und Praxis in den USA haben Arendt dazu motiviert, die Tradition, aus der sie kam, nämlich Phänomenologie, Existenzphilosophie und kantisches Denken, grundlegend durch den Pluralitätsbegriff zu transformieren und neu zu denken.

Ernst Vollrath, politischer Philosoph und Arendt-Interpret, spricht sogar davon, dass Arendts gesamtes politisches Denken als der Versuch verstanden werden kann, die Grundprinzipien des amerikanischen politischen Systems mit ihrem europäischen und vor allem auch deutschen philosophischen Erbe in Dialog zu bringen.

Wie kamen Arendts Ideen schließlich nach Europa zurück?

Loidolt: Ich würde hier weniger von einer „Rückkehr der Ideen“ sprechen als von einem fruchtbaren Zusammentreffen der Traditionen und von einer wechselseitigen Transformation durch dieses Zusammentreffen. Gewiss sind einige Ideen Arendts, wie etwa ihr kommunikativer Machtbegriff, in das Denken von Jürgen Habermas eingeflossen und so quasi zur „Staatsphilosophie“ des demokratischen Deutschland geworden. Ebenso ist bekannt, dass Václav Havel ein begeisterter Leser Arendts war und ihre Totalitarismuskritik am Nationalsozialismus und Stalinismus für viele Intellektuelle der ehemaligen Ostblockstaaten äußerst wichtig war.

Wollte Arendt auch selbst wieder nach Europa?

Loidolt: Sie kam nur mehr für regelmäßige Besuche und Vortragsreisen nach Europa zurück. Arendt sah in der erzwungenen Emigration weniger einen Verlust als vielmehr die Chance, in einem neuen Gemeinwesen politisch und als Intellektuelle existieren zu können. Im Übrigen glaube ich auch, dass sie als Jüdin, Frau und Paria des akademischen Bereichs in den USA gewiss die besseren Ausgangsbedingungen hatte, gehört und ernstgenommen zu werden, als wenn sie in den fünfziger Jahren nach Deutschland zurückgekehrt wäre.

Und heute? Was können wir von den USA lernen? 

Loidolt: Wir können auf jeden Fall nach wie vor davon ausgehen, dass viele Entwicklungen, die in den USA passieren, auch in Europa, in der einen oder anderen Form, früher oder später, ankommen. Insofern ist die kulturelle Hegemonie Amerikas wohl keineswegs passé. Die Frage ist immer nur, was wir hier in Europa übernehmen. Und da scheint mir, denkt man etwa an das Universitätssystem, dass wir viele schlechte Ideen übernommen haben – ohne dabei die guten mit zu übernehmen. Ich halte es deshalb für notwendig, sich mit den USA in ihrer ganzen Vielschichtigkeit auseinanderzusetzen, also weder in einen pauschalen Antiamerikanismus zu verfallen, noch alles zu affirmieren oder zu imitieren, was dann vor Ort, in den USA, vielleicht doch wieder ganz anders aussieht als in der europäischen Version.

Sie selbst haben in New York gelebt und geforscht. Welche Eindrücke haben Sie mitgebracht?

Loidolt: Ich habe 2004 ein halbes Jahr an der New School for Social Research studiert und bin dann als Visiting Scholar der ÖAW 2010 für einen Forschungsaufenthalt wieder dorthin zurückgekehrt. Und dank meiner Eltern, die große USA-Fans sind, habe ich schon als Kind viel von dem Land gesehen. Da wird einem schnell klar, dass es „die USA“ natürlich nicht gibt. Was New York und die New School betrifft, so war das eine außergewöhnliche Erfahrung eines intellektuell anregenden Klimas und einer international durchmischten Diskussionsgemeinschaft, was für mich und meine Arbeit sehr inspirierend war. Insofern kann ich Hannah Arendt gut nachfühlen, dass dieses Umfeld ihr Pluralitätsdenken vorangetrieben hat.

 

Sophie Loidolt studierte Philosophie an der Universität Wien und war DOC- als auch APART-Stipendiatin der ÖAW. Sie absolvierte Forschungsaufenthalte in Frankreich, Belgien, Dänemark und den USA. Loidolt unterrichtete u.a. an den Universitäten Wien und Klagenfurt sowie an der Kunstuniversität Linz. 2014 wurde sie in die Junge Akademie der ÖAW aufgenommen, seit 2016 ist sie Gastprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Ihre Habilitationsschrift “Phenomenology of Plurality. Hannah Arendt on Political Intersubjectivity” erscheint 2017 als Buch bei Routledge.

Die Konferenz „Ideas Crossing the Atlantic“ der ÖAW-Kommission „The North Atlantic Triangle“ fand von 2. bis 4. Dezember 2016 an der Akademie in Wien statt.

Konferenzprogramm

ÖAW-Kommission „The North Atlantic Triangle”