03.08.2020

CMS Kollaboration findet erste Evidenz für die Wechsel­wirkung des Higgs-Bosons mit dem Myon

Die CMS-Kollaboration präsentierte im Rahmen der ICHEP 2020 Konferenz, der größten Teilchenphysikkonferenz dieses Jahres, den nächsten experimentellen Meilenstein in der Erforschung des Higgs-Bosons: erstmals wurde die seine Wechselwirkung mit dem Myon gemessen. Diese neueste CMS Messung könnte der erste Schritt sein, um dem Rätsel der Teilchenmassen auf die Spur zu kommen. Das Institut für Hochenergiephysik (HEPHY) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist zentral an diesem Forschungsprogramm beteiligt und leistet wesentliche Beiträge zur Erfassung und Auswertung von CMS-Daten.

Abbildung 1: Überblick der Messungen der Wechselwirkungen des Higgs-Bosons mit anderen fundamentalen Teilchen. Die Vorhersage des Standardmodells ist als blaue Linie dargestellt. Das untere Panel zeigt das Verhältnis zwischen gemessener Kopplung und der Vorhersage des Standardmodells. Das neue CMS Ergebnis ist die erste Messung der Wechselwirkung des Higgs-Bosons mit dem Myon, dargestellt durch den Datenpunkt ganz links. CR CERN/CMS

Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt alle fundamentalen Teilchen im Universum. Die enormen Unterschiede ihrer Massen sind allerdings durch dieses Modell nicht erklärt. Tatsächlich ist das schwerste Elementarteilchen, das Top-Quark, viele hunderttausend mal schwerer als das leichteste Elementarteilchen, das Elektron. Das Higgs-Feld spielt eine Schlüsselrolle in der Beschreibung der Teilchenmassen. Es durchdringt den Raum, und die verschiedenen Wechselwirkungsstärken mit den fundamentalen Teilchen führen zu den verschieden Massen. Dieser „Brout-Englert-Higgs-Mechanismus“ ist sehr gut verstanden, allerdings ist gänzlich unklar warum die Werte so verschieden sind.

Das Standardmodell sagt, in anderen Worten, also weder die Teilchenmassen noch die Kopplungsstärke mit dem Higgs-Feld vorher, sondern nur, dass die beiden proportional zueinander sind.

Das Rätsel ist von besonderer Relevanz da sich Elektronen, Quarks, usw. nach ihrer Masse in drei Gruppen ("Teilchengenerationen") einteilen lassen. Warum es genau drei Gruppen gibt ist ebenfalls unbekannt. Es ist daher besonders wichtig, alle Unterschiede zwischen den Generationen im Experiment zu testen und die Vorhersagen des Standardmodells diesbezüglich genau zu prüfen.

Die spektakuläre Entdeckung des Higgs-Bosons durch die ATLAS und CMS Kollaborationen im Jahr 2012 war der erste Nachweis eines Teilchens, das direkt mit dem Higgs-Feld assoziiert ist. Wenn Higgs-Bosonen durch die Proton-Proton Kollisionen am LHC erzeugt werden, zerfallen sie fast sofort in andere Elementarteilchen. Durch Messung der Zerfallsraten, kann man die Kopplungsstärke des Higgs-Felds zu dem betreffenden Teilchen messen. Daher kann man so den Brout-Englert-Higgs-Mechanismus direkt überprüfen. Seit der Entdeckung des Higgs-Bosons haben Physiker/innen weltweit enorme Anstrengungen unternommen, Experiment und theoretische Vorhersage mit möglichst hoher Präzision zu vergleichen. Bislang wurden die meisten Messungen bezüglich der schwersten Elementarteilchen durchgeführt. Das sind die W- und Z-Bosonen, die Top- und Bottom-Quarks, sowie das Tau-Lepton. Die Wechselwirkung mit den leichteren Elementarteilchen ist wegen der geringen Wechselwirkungsstärke und der dadurch verringerten Ereignisrate viel schwieriger. Um dem Rätsel der Teilchenmassen auf die Spur zu kommen, ist es nichtsdestotrotz besonders wichtig, hier weiter vorzustoßen. Die Messung der Wechselwirkung des Higgs-Bosons mit dem Myon, mit etwa einem Zweitausendstel der Masse des Top-Quarks, ist dabei der nächste experimentelle Meilenstein. Zum ersten mal könnte man damit die Wechselwirkungen des Higgs-Feldes mit Teilchen einer neuen Generation, auf bislang unerreichter Massenskala, testen.

Der Zerfall des Higgs-Bosons in Myonen ist mit etwa einem Zerfall pro fünftausend Higgs-Bosonen extrem selten. Es macht die Sache nicht einfacher, dass es für jedes Higgs-Boson auch noch etwa tausend Myonpaare gibt welche sich ganz ähnlich verhalten. Diese Hintergrundereignisse, wie etwa von Z-Bosonen, erschweren eine Identifizierung der Zerfälle des Higgs-Bosons  erheblich. Neben dem erstklassigen Myon-Detektionssystems misst der CMS-Detektor die Spuren der Myonen mit hoher Präzision mittels eines Silizium-basierten Trackers. Ein Magnetfeld von 3.8T, also etwa 100000 mal stärker als das Erdmagnetfeld, krümmt dabei die Spuren der Myonen und erlaubt eine Messgenauigkeit des Myonimpulses von 1-2% bei hoher Nachweiswahrscheinlichkeit. Diese außergewöhnlichen Kennzahlen tragen wesentlich dazu bei, dass die CMS-Kollaboration nun die erste Evidenz für die Kopplung des Higgs-Feldes an das Myon vermelden kann.

Das Institut für Hochenergiephysik (HEPHY) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) leistete entscheidende Beiträge zum Bau des Silizium-Spurdetektors und der Spurerkennung und entwickelte und betreut zentrale Komponenten des Triggersystems für Myonen, das  Kollisionsereignisse wie z.B. Higgs-Bosonzerfälle zu Myonen in Echtzeit auswählt und für die Analyse bereitstellt.

Die Sensitivität der Messung wurde dabei gegenüber dem letzten Ergebnis entscheidend verbessert. Vier verschiedene Analysen waren nötig, um das schwache Signal für die verschiedenen Entstehungsprozesse des Higgs-Bosons vom Hintergrund zu trennen. Ausgefeilte machine-learning Algorithmen (deep neural networks) halfen bei der Differenzierung von Signalereignissen und Hintergrund. Die experimentelle Signatur ist dabei ein kleiner Überschuss an Ereignissen mit Myonpaaren mit invarianter Masse ähnlich der Higgs-Boson Masse, also etwa 125 GeV.

Die Abbildung unter diesem LINK zeigt die Anzahl an Kollisionen für verschiedene Myonpaarmassen. Der Hintergrund von Zerfällen des Z-Bosons dominiert, und fällt zu größeren Werten. Der winzige Beitrag von Higgs-Bosonen mit Zerfällen in Myonen ist gar nicht sichtbar, erst wenn man den Hintergrund subtrahiert (unteres Panel) wird ein kleiner Überschuss erkennbar. Die gemessene Rate stimmt mit der theoretischen Vorhersage überein.

Die Abbildung unter folgendem LINK zeigt die Wahrscheinlichkeit, dass die beobachteten CMS Daten ohne den gesuchten Higgs-Bosonzerfall in Myonen erklärt werden können. Wenn diese Wahrscheinlichkeit klein ist, dann favorisiert die Beobachtung den fraglichen Zerfall. Für eine Higgs-Boson Masse von 125.38 GeV, also dem derzeit genauesten Messwert, ist die Wahrscheinlichkeit einer statistischen Fluktuation unter 1 zu 500.

Es liegt also jetzt die erste Messung der Wechselwirkung zwischen dem Higgs-Boson und dem Myon vor, und damit haben wir erstmals Evidenz für die Kopplung an die zweite Generation an Leptonen. In Abbildung 1 (siehe oben) werden die neuesten CMS Messungen der Wechselwirkungen des Higgs-Bosons mit dem Standardmodell verglichen. Das neue Ergebnis untersucht also Wechselwirkungen mit Teilchen deren Massen nur etwa ein Zehntel der vorigen Messung betragen.

Obwohl die Myonmessung in Abbildung 1 (siehe oben) mit dem Standardmodell übereinstimmt gibt es noch große Unsicherheiten. Da das Higgs-Boson so selten in Myonpaare zerfällt, ist die erreichbare Genauigkeit durch die Größe des Datensatzes bestimmt. Dieser wird sich während der nächsten Periode der Datennahme (Run 3) am LHC etwa verdoppeln und damit die Genauigkeit dieser wichtigen Messung verbessern. Auf lange Sicht wird der High-Luminosity LHC Datensätze liefern, welche eine Präzisionsmessung erlauben werden.

Weitere Informationen:

Interview mit Wolfgang Adam, Physik-Koordinator des CMS-Experiments

CMS physics analysis summary

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