05.07.2017

Am wichtigsten Zeitpunkt eines Lebewesens

In der Entwicklung eines Embryos, gibt es eine entscheidende Phase, in der sich die Anlagen für die Gestalt eines Organismus ausbilden. Die Genetikerin Maria Leptin untersucht, was dabei auf molekularer Ebene geschieht. Bei einer „Hans Tuppy Lecture“ gab sie einen Einblick in ihre aktuelle Forschung.

© ÖAW/Daniel Hinteramskogler
© ÖAW/Daniel Hinteramskogler

Gastrulation – klingt etwas sperrig, ist aber ziemlich spannend. Denn das Wort beschreibt jenes Stadium in der Embryonalentwicklung in dem ein Organismus verschiedene Zellschichten ausbildet, aus denen sich dann unterschiedliche Strukturen, Gewebe und Organe entwickeln. Was an diesem Startpunkt der Gestaltbildung genau passiert, nahm am 29. Juni 2017 die Genetikerin Maria Leptin in den Blick. Die Direktorin der European Molecular Biology Organization (EMBO) hielt auf Einladung von Österreichischer Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Universität Wien eine „Hans Tuppy Lecture“ im Festsaal der Akademie.

Leptin möchte – kurz gesagt – mit ihrer Forschung herausfinden, welche Prozesse auf zellulärer und molekularer Ebene bei der Gastrulation stattfinden. „Während der Entwicklung einer Zelle zu einem vielzelligen Organismus geschieht eine unglaubliche Transformation mit sehr komplizierten Prozessen. Durch die wahnsinnige Weiterentwicklung der genetischen Methoden der letzten Jahre, sind wir derzeit an einem sehr spannenden Punkt angelangt“, erklärte sie und nahm das Publikum zunächst mit auf eine Reise in die Geschichte der Biologie.

Einblicke in das Geheimnis der Zelle

Durch die Erfindung der Mikroskopie, erzählte Leptin, wurden Theorien wie etwa die Idee, dass jedes Spermium einen kleinen Homunculus – also einen gesamten Organismus, der sich nur noch entfalten und wachsen müsse – in sich trägt ad acta gelegt. Plötzlich war es möglich, Zellen zu sehen und zu beobachten wie sich diese teilen. Man erkannte, dass Zellen trennbar sind und sich aus jeder Zelle ein eigener Organismus entwickeln kann.

 

Während der Entwicklung einer Zelle zu einem vielzelligen Organismus geschieht eine unglaubliche Transformation.

 

„Die Entwicklungsgenetik ist ein relativ junges Gebiet und setzt sich aus der Entwicklungsbiologie und der Genetik zusammen“, so Leptin. Um entwicklungsgenetische Prozesse aufzuklären, benötigen die Wissenschaftler/innen etwa Modellorganismen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie leicht zu halten sind und ihre Generationszeit kurz ist. Der berühmte Genetiker Thomas Hunt Morgan führte Anfang des 20. Jahrhunderts die Frucht- oder Taufliege „Drosophila melanogaster“ als Modellorganismus ein. Beigetragen zum Erfolg dieses kleinen Insekts hat die Entdeckung, dass einige Gene zwischen Drosophila und Mensch homolog sind, also von einem gemeinsamen Vorläufer abstammen.

„Als ich in den 80er Jahren an das Max-Planck-Institut nach Tübingen kam, wurde immer noch darüber diskutiert ob die Entwicklung eines Organismus wirklich von Genen bestimmt wird oder dieser Vorgang mechanisch abläuft“, so Leptin. Entwicklungsbiolog/innen fanden schließlich eine Vielzahl an Genen, die tatsächlich für die Morphogenese verantwortlich sind.

Entschlüsselung der Gastrulation

Am Beginn dieser Gestaltbildung in der frühesten Embryonalentwicklung entsteht zuerst eine Blase und darüber Zelllagen. Leptin: „Wir haben untersucht wie die Zellen anschließend nach innen wandern und eine Furche bilden. Um dies zu bewerkstelligen, verändern die Zellen ihre Form“. Die Wissenschaftler/innen haben die Änderung der Zellform, die Geschwindigkeit und die Richtung der Zellbewegungen gemessen. „Wir wollten schließlich herausfinden wie sich die Zellen während der Gastrulation untereinander koordinieren“, so Leptin.

 

Wir wollten schließlich herausfinden wie sich die Zellen während der Gastrulation untereinander koordinieren. 

 

Dafür war es nötig, dass alle Zellen gleichzeitig beobachtet werden können – was allerdings sehr schwierig ist, da ein Mikroskop benötigt wird, das Tiefe, Geschwindigkeit und hohe Auflösung zugleich bereitstellt. Eine Herausforderung, die Leptin und ihr Team überwanden, indem sie kurzerhand eine Mikroskopietechnik entwickelten, mit der sie schließlich den gesamten Organismus beobachten konnten.

 

 

Was die Forscher/innen zudem auf der genetischen Ebene entdeckten, war, dass die Gastrulation von zwei Transkriptionsfaktoren mit der Bezeichnung „Snail“ und „Twist“ abhängt. Letzteres ist etwa dafür zuständig, die Wanderung von bestimmten Zellen im embryonalen Gewebe zu ermöglichen und zu leiten. Fehlt jedoch eines dieser beiden Proteine, entstehen Fehler in der mesodermalen Entwicklung, fehlen beide, gibt es gar keine mesodermale Differenzierung oder Morphogenese. Maria Leptin und ihre Mitarbeiter/innen konnten schließlich vier Zielgene von „Twist“ identifizieren, die für die sogenannte Invagination, einen Teil der Embryonalentwicklung, notwendig sind, indem sie das Zytoskelett – ein Netzwerk aus winzigen Röhrchen und Fäden, das jede Zelle durchzieht - modifizieren und auf Adhärenzverbindungen zwischen Zellen einwirken.

Dank dieser Entdeckungen kann die entwicklungsgenetische Forschung die Gestaltbildung von Organismen heute bereits recht gut erklären. Doch da in der Wissenschaft bekanntlich jede Antwort neue Fragen aufwirft, gibt es noch einige Lücken im Wissen um die komplizierten Prozesse im Embryo, bei denen aus einschichtigen schließlich vielschichtige Gewebe werden – Maria Leptin und ihr Team arbeiten aber bereits daran, auch diese Wissenslücken zu füllen.

 

Maria Leptin ist Professorin am Institut für Genetik der Universität zu Köln und leitet dort sowie am European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg Forschungsgruppen. Darüber hinaus ist sie seit 2010 Direktorin der European Molecular Biology Organization (EMBO), die ihren Sitz in Heidelberg hat.

„Gestalt und Form – Grundlagen der Entwicklung von Organismen“ lautete der Titel des Vortrags von Maria Leptin, den sie im Rahmen der „Hans Tuppy Lectures“, einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe von ÖAW und Universität Wien, am 29. Juni 2017 an der Akademie hielt.

 

Hans Tuppy Lectures

Video Des Vortrags