18.07.2017

ALLES ABSORBIERENDE GEGENWART

Die Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht und Michael Rössner diskutierten an der ÖAW neue Konzeptionen von Zeit in Wissenschaft und Literatur.

©Wikimedia/Public Domain/Colin
©Wikimedia/Public Domain/Colin

Was ist Zeit? „Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Der berühmte Satz des mittelalterlichen Theologen Augustinus gilt wohl auch heute noch. Jeder weiß im Alltag, was Zeit ist. Aber selbst die Wissenschaft tut sich schwer, es zu erklären.

Die Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht und Michael Rössner wählten daher im Rahmen einer Öffentlichen Gesamtsitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) einen anderen Weg. Ihnen ging es weniger darum was Zeit „an sich“ ist, sondern wie sich Konzeptionen von Zeit über die Zeit in Wissenschaft und Literatur verändert haben.

Willkommen im ewigen Jetzt

Mit Edmund Husserls Definition von Zeit als Form des menschlichen Bewusstseins im Gepäck, erläuterte Hans Ulrich Gumbrecht vor den Mitgliedern der Akademie zunächst die Entstehung des sogenannten „historischen Weltbildes“. Dieses wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts so vorherrschend, dass man „150 Jahre lang glaubte, es handle sich bei der ‚historischen Zeit‘ um die Zeit an sich“, wie der in Stanford lehrende Komparatist im Festsaal der ÖAW sagte.  

Gumbrecht knüpfte hingegen eher an die kritischen Geschichtstheorien von Reinhart Koselleck und Michel Foucault an, die einen linearen Geschichtsverlauf weder als objektiv noch alternativlos sehen. Im Gegensatz zu dem deutschen Historiker und dem französischen Philosophen, die beide das historische Weltbild zwar hinterfragt hatten, aber keine Antwort gaben, was darauf folgen sollte, identifizierte Gumbrecht eine neue Zeitlichkeit. Sie sei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen und wird von ihm als „die breite Gegenwart“ bezeichnet.

Unsere heutige Gegenwart ist eine sich verbreitende Gegenwart der Simultanitäten.

Bei dieser „breiten Gegenwart“, in der wir uns heute befinden, handelt es sich laut Gumbrecht im Gegensatz zur historischen und linear verlaufenden Zeit „nicht mehr um einen nicht wahrnehmbaren kurzen Moment des Übergangs, sondern um eine sich verbreitende Gegenwart der Simultanitäten.“ Diese Gegenwart absorbiere alle Vergangenheiten in sich. Sie vergeht nicht mehr pfeilschnell als ein kurzes „Jetzt“, sobald die nahende Zukunft sie abgelöst hat, wie im historischen Weltbild. Stattdessen verweilt sie und breitet sich in einer hektischen Synchronität von gestern, heute und allem, was der Fall ist, aus. „Die Gegenwart“ zitierte Gumbrecht den Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann „umfasst alles“. Für Gumbrecht ist unsere heutige Welt deswegen „eine Gegenwart von ungeheurer Komplexität. Eine Gegenwart, die sich entwickelt zum Universum der Kontingenz. Und eine Gegenwart die sich immer noch verbreitet.“

Abschied von der Chronologie

Dieses neue Zeitverständnis hat auch Einfluss auf die Möglichkeiten des Erzählens genommen, wie Michael Rössner, Professor für Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, anhand einer Analyse von Zeitstrukturen in der Literatur belegte.

Wie übersetzt man ein gekrümmtes Raum-Zeit-Kontinuum?

Rössner, der auch Direktor des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW und deren wirkliches Mitglied ist, verwies dabei auf den Einfluss, den Einsteins Relativitätstheorie auf die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte. Es waren vor allem die Surrealisten, die darum bemüht waren, mithilfe von Einsteins Überlegungen das Weltbild Newtons, das von einer linear verlaufenden Zeitachse ausgeht, hinter sich zu lassen. Doch: „Wie übersetzt man ein gekrümmtes Raum-Zeit-Kontinuum in den traditionellerweise linearen Ablauf von Geschichte?“, fragte Rössner.

Denn während noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitvorstellung der klassischen Mechanik dominant war, mussten die Schriftsteller/innen des 20. und 21. Jahrhunderts neue Methoden entwickeln, um die Erkenntnisse der modernen Physik in ihre Erzählweise zu integrieren. So sind etwa Raum und Zeit in der modernen Physik keine absoluten Größen mehr. Und die Literatur greift diesen Gedanken auf, um das chronologische Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzubrechen.

Zeit ist nicht zeitlos

Anhand der Werke lateinamerikanischer Autoren wie Abel Posse, Joaquim Maria Machado de Assis, Julio Cortázar oder des Spaniers Federico García Lorca erläuterte Rössner, wie relationale Zeitvorstellungen erzählerisch umgesetzt wurden: Da kehren Figuren den Zeitpfeil um und erzählen ihr Leben aus dem Jenseits heraus rückwärts oder eine Handlung wird „nonlinear als Hüpfspiel von Kapitel zu Kapitel erzählt.“   

Die chronologische Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird also kontingent immer auch anders möglich. Und hier schließt sich der Kreis von der Literatur zu neuesten Erkenntnissen aus der Quantenphysik, wie ÖAW-Präsident Anton Zeilinger in der an die Vorträge anschließenden Diskussion anmerkte. Sie haben gezeigt, dass es Fälle von „undefinierter kausaler Ordnung“ zu geben scheint. „Das heißt, es gibt zwar Ereignisse, die aufeinander bezogen sind, aber deren kausale Ordnung im Sinne von, was vorher, was nachher kommt, undefiniert ist“, so der Quantenphysiker. Die Zeit ist also selbst ein Kind ihrer Zeit. Und was immer sie „eigentlich“ ist, zeitlos ist sie offenbar nicht.

 

„Zum Zeitbegriff in den Geistes- wissenschaften“ lautete der Titel eines Diskussionsforums im Rahmen der Öffentlichen Gesamtsitzung der ÖAW am 23. Juni 2017. Hans Ulrich Gumbrecht sprach dort über „Die Geschichtlichkeit von Zeit – heute“ und Michael Rössner über „Nichtlineare Zeitstrukturen in der modernen Literatur.“