0120 Arbeiter-Zeitung 41. Jg., Nr. 314, 11.11.1928, S. 2 Es lebe die Republik! Viereinhalb Jahre lang hatte die eiserne Disziplin der k. u. k. Armee die Millionen immer wieder in Tod und Verderben ge- jagt. Viereinhalb Jahre lang hatten Mil- lionen zitternd alle Schrecken des Trommel- feuers, mit Grimm und Wut in den Herzen alle Qualen des Hungers, der Kälte, des Schmutzes im Schützengraben ertragen. Viereinhalb Jahre lang hatte der jüngste Fähnrich den ältesten Landsturmmann ohr- feigen dürfen. Nun war es vorbei. Die Fronten zerbrochen. Alle Bande der Disziplin gelöst. Alle militärische Ordnung zerrissen. In chaotischer Unordnung strömten die Soldaten in die Heimat: hungernd, zerlumpt, verwildert, von leidenschaftlicher Rachgier durchwühlt ... Viereinhalb Jahre lang hatten die Ar- beitermassen die Willkürherrschaft der militärischen Betriebsleiter, viereinhalb Jahre unterernährte Männer und Frauen die Qualen endloser Ueberarbeit ertragen. Nun war es vorbei. Die Kriegsbetriebe sperrten ihre Tore. Arbeitslos strömten Massen, Not und Qual und Verzweiflung in den Seelen, auf die Straße. Kein Mehl, kein Fett, kein Fleisch, keine Kohle im Lande. Der Hunger mordet die Alten und die Kinder. Die Verzweiflung marschiert durch die Straßen ... Slawen und Magyaren abgefallen. Das alte Reich zerschlagen. Alle staatliche Gewalt aufgelöst. Das Chaos, der blutige Krieg aller gegen alle um das letzte Stückchen Brot droht ... Aristokraten, reiche Bürger, Generale betteln bei den Generalen der Siegermächte, sie mögen Deutschösterreich mit ihren Truppen besetzen ... Damals, als alle Autoritäten in Blut und Schmutz und Schande zusammen- gebrochen waren, blieb nur e i n e Autorität unerschüttert stehen, ein wahrer Felsen von Erz: die moralische Autorität der Sozial- demokratie! Damals, als alle staatliche Macht zerbrochen war, gab es nur e i n e Macht im Lande: die Macht der sozialdemo- kratischen Idee über die Seelen der hun- gernden, gepeinigten Massen! Damals hat die Sozialdemokratie die Republik gefordert und erzwungen. Als Viktor A d l e r am 21. Oktober 1918, in der Stunde der Gründung des deutschöster- reichischen Staates, die Republik forderte, antworteten Christlichsoziale und Groß- deutsche noch: Wir halten an der konsti- tutionellen Monarchie fest! Drei Wochen später, am 12. November, kapitulierten sie vor der drohenden Forderung der Sozial- demokratie. Die Sozialdemokraten übernahmen es, die Republik in ihrer Entstehungszeit zu führen. In der Zeit der Hungerrationen, in der Zeit, da selbst der Straßenbahn- verkehr eingestellt und die Straßenbeleuch- tung gedrosselt werden mußte, weil keine Kohle da war, die Elektrizitätswerke zu speisen, in einer Zeit, in der Hunger, Ver- zweiflung, Rachsucht, Revolutionsromantik, in der die Beispiele östlich und westlich unserer Grenzen zu Abenteuern lockten, die in furchtbarer Katastrophe geendet hätten, hat die Sozialdemokratie die Massen mit rein geistigen Mitteln, ohne Appell an die Gewalt, geführt, hat sie in den Arbeiter- und den Soldatenräten, in Betriebs- und Kasernenversammlungen Einsicht und Ver- antwortungsgefühl der Massen zum Siege geführt über alle Versuchungen der Ver- zweiflung. So, gestützt auf das Vertrauen, auf die Einsicht, auf die Opferwilligkeit der Massen, hat die Sozialdemokratie die Republik auf- gebaut. So hat sie die neue republikanische Arbeitsverfassung geschaffen – Achtstunden- tag, Arbeiterurlaube, Betriebsräte, Arbeits- losenversicherung. So hat sie als festeste Stütze der Republik unser rotes Wien auf- gerichtet. Die Republik konnte nur werden und konnte die unermesslichen Gefahren ihrer An- fänge nur überdauern dank dem un- erschütterlichen Vertrauen der Massen zur Sozialdemokratie, dank der schier über- menschlichen Selbstzucht der sozialdemo- kratischen Arbeiterschaft in der Zeit des furchtbarsten Elends, sie konnte nur werden und sich befestigen aus dem Willen und aus der Kraft der von der Sozialdemokratie ge- führten Arbeiterklasse. * * * Zehn Jahre sind seither vergangen. Wenige Schritte von der Hofburg, in der jahrhundertelang die Habsburger residiert haben, wird die sozialdemokratische Arbeiter- schaft morgen das Denkmal enthüllen, das ihre Organisationen gestiftet haben, um den zehnten Jahrestag der Entstehung der Republik würdig zu feiern: das Denkmal der Republik. In der Mitte der Stadt, wo die Denk- mäler der habsburgischen Kaiser und ihrer Heerführer stehen, wird die sozialdemo- kratische Arbeiterschaft morgen das Denkmal unserer großen Vorkämpfer enthüllen, das Denkmal der drei Männer, deren Gestalten vier Jahrzehnte der Entwicklung, der Kämpfe, des Aufstieges, der sozialdemo- kratischen Arbeiterschaft verkörpern: das Denkmal der Arbeiterklasse. Das Denkmal der drei Männer, in deren Gestalten die Arbeiterklasse ihre Geschichte versinnbildlicht, als Denkmal des Sturm- tages der Gründung der Republik – dieser Doppelsinn unseres Denkmals soll allen kommenden Geschlechtern symbolisieren die untrennbare Verbundenheit der Republik mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, der sozialdemokratischen Arbeiterklasse mit der Republik. Viktor Adler setzen wir unser Denkmal – Viktor Adler, der vor zehn Jahren, am Tage vor der Errichtung der Republik, von uns gegangen ist. Wir feiern die Republik, indem wir sein Denkmal setzen; denn die demokratische Republik ist die Frucht seines Kämpfer-, seines Erzieher- lebens. Als er, zweiunddreißig Jahre vor der Errichtung der Republik, in die Arbeiter- bewegung eintrat, war Oesterreich noch ein feudaler Staat, von Höflingen und Aristo- kraten regiert, war die Arbeiterschaft noch ausgeschlossen vom Wahlrecht, gehetzt unter dem Ausnahmezustand, spukten in den Köpfen der kleinen Zirkel sozialistischer Arbeiter noch anarchistische Irr- und Wirr- lehren. Er erst hat die Arbeiter gesammelt zum Kampfe um die Demokratie. Unter seiner Führung erst hat die junge Sozial- demokratie die Fesseln des Ausnahme- zustandes gebrochen, den Arbeitern die demokratischen Grundrechte – Vereins-, Ver- sammlungs-, Preßfreiheit – erobert, unter seiner Führung in gewaltigen Kämpfen das allgemeine und das gleiche Wahlrecht, den Lebensquell aller Demokratie, erstritten, unter seiner Führung in seinen letzten Lebenstagen schließlich diesen dreißigjährigen Kampf um die Demokratie gekrönt mit der Errichtung der demokratischen Republik! Viktor Adler, der Führer im dreißig- jährigen Kampfe um die demokratische Re- publik, er war der große, der unvergleich- liche Erzieher der Arbeiterklasse. Er hat in dreißigjähriger Erziehungsarbeit die sozial- demokratische Arbeiterschaft zu jener Einsicht, jenem Verantwortungsgefühl, jener Opfer- willigkeit, jener Disziplin erzogen, die allein es der Sozialdemokratie ermöglicht haben, die Republik durch alle die Gefahren der Hunger-, der Not-, der Sturmzeit ihrer Entstehungsjahre hindurchzuführen! So ist er in doppeltem Sinne, als Kämpfer und als Erzieher, der eigentliche Gründer unserer demokratischen Republik! Und an seine Seite stellt unser Denk- mal zwei Männer, die, aus dem Schoße der Arbeiterschaft geboren, die Arbeiter- schaft in der Sturmzeit der Republik ge- führt haben: Ferdinand Hanusch, den schlesischen Webergesellen, der uns die Arbeitsverfassung der Republik geschaffen hat; Jakob Reumann, den Wiener Drechsel- gehilfen, den ersten Bürgermeister des roten Wien. Die Büsten dieser beiden Proletarier am Denkmal der Republik, sie sollen die Welt daran mahnen, daß aus proletarischer Kraft diese Republik geworden ist! * * * Die Zeiten sind andre geworden. Die Bourgeoisie, die Besiegte von 1918, sie hat sich, gestützt auf den dumpfen Konservatis- mus des Landvolkes, längst der Re- gierungsgewalt in der Republik bemächtigt. Sie, die es uns überlassen hat, die Republik zu führen, als die bitterste Not im Lande war, spreizt sich jetzt hochmütig im Be- sitz der Macht in der Republik. Sie, die die Republik mit Grimm und mit Angst im Herzen entstehen gesehen hat, hat sich jetzt mit der Republik "abgefunden", hat sich in ihr eingerichtet, feiert jetzt in Frack und Zylinder i h r e Republik ... Wir aber wissen es anders. Unser Auf- marsch vor unserem Denkmal soll sie daran erinnern: Wir, wir allein sind die Schöpfer, die Gründer dieser Republik! Unser Vertrauen zu unserer Idee sagt es uns: Die Idee, die so unbesieglich war, in dem Chaos vor zehn Jahren die Republik aufzurichten – sie wird sieghaft binnen weniger Jahre den dumpfen Konser- vatismus durchbrechen, der noch die Herrschaft der Bourgeoisie stützt, wird in wenigen Jahren durch den Willen der Mehrheit des Volkes unsere Republik uns wiedergeben! Dann erst wird die Idee, deren Kraft die Republik geschaffen hat, die Republik beseelen, gestalten, entwickeln! Dann erst wird der Geist der Männer, deren Denkmal wir der Republik weihen, die Republik erfüllen! Dann erst kränzen wir als Sieger das Denkmal der Republik! In der Erinnerung an die Taten der Arbeiterklasse in der Vergangenheit, aus denen die Republik geworden ist, und in der Zuversicht auf die sieghafte Kraft der sozialistischen Idee der Zukunft, die sich die Republik erobern wird, feiern wir den zehnten Jahrestag der Entstehung der Republik. Die Republik war unser. Unser wird sie werden. Es lebe die Republik! |