Byzantinische Gebetbücher (euchologia) enthalten — zusätzlich zu den eucharistischen und sakramentalen Liturgien — eine große Anzahl von „Gelegenheitsgebeten“, die bei verschiedenen Anlässen von Klerikern gesprochen werden („Anlassgebete“). Diese Gebete betreffen Anliegen aller sozialen Schichten, ungeachtet des sozialen und ökonomi­schen Status. Dennoch sind sie bisher als Quelle für die Erforschung des Alltagslebens und für die Sozialgeschichte weitgehend unerforscht geblieben.

Das Wiener Euchologia Projekt (VEP) verfolgt einen zweifachen Forschungsansatz, der themen­zentrierte Forschung mit Grundlagenforschung verbindet. Verschiedene Einzelforschungsprojekte veranschaulichen das Potenzial dieses Quellenmaterials und erarbeiten methodologische Ansätze: Gebete im Kontext historischer Ereignisse; die handschriftliche Überlieferung der euchologia als Spiegelbild der lokalen Gemeinschaften und ‚textual communities’, denen sie zum Gebrauch dienten; die Entstehung organisierter Laienfrömmigkeit; Bildung im kirchlichen Umfeld; die Relevanz der euchologia für Frauen im Zusammenhang mit ritueller Reinheit, Schwangerschaft und Geburt.

Um diese thematischen Untersuchungen auf eine solide Basis zu stellen, wird im Rahmen des Projekts ein Handschriftencensus der relevanten Textzeugen erstellt. Der Census dient als Grundlage für eine Datenbank der in den euchologia überlieferten Gebete, aufgeschlüsselt nach Gebetsanlässen. Sowohl der Handschriftencensus als auch die Datenbank sind so konzipiert, dass sie zukünftige Forschungen auch in anderen Forschungsbereichen, wie z.B. in der Liturgiewissenschaft, ermöglichen.

 

Die Quellen

Die handschriftliche Überlieferung der euchologia beginnt im späten achten Jahrhundert und reicht bis weit in die nachbyzantinische Zeit. Im frühen 15. Jahrhundert waren – nach zeitgenössischen Berichten – etwa 2000 Handschriften der Göttlichen Liturgie im Umlauf, doch inwieweit diese Zahl auch auf euchologia zutrifft, ist nicht bekannt. Gleichfalls ungeklärt ist auch die genaue Zahl der erhaltenen handschriftlichen Textzeugen. Die in euchologia überlieferten sakramentalen Liturgien wurden bisher von Theologen und Liturgiewissenschaftlern häufig auf der Grundlage einzelner Handschriften untersucht. Euchologia überliefern aber auch eine Vielzahl von kurzen Gebeten („Anlassgebete“) zu so unterschiedlichen Anlässen wie Fehlgeburt, Purifikation von Brunnen, Käseerzeugung, Fischfang, Weinlese, Kirchenbau oder zum ersten Schultag eines Kindes.

Die Handschriften weisen beträchtliche Unterschiede hinsichtlich des Inhalts, der Anliegen und der Reihenfolge der Anlassgebete auf. Darüber hinaus können unterschiedliche Gebetstexte, die in verschiedenen oder in ein und derselben Handschrift überliefert sind, dasselbe konkrete Anliegen ansprechen. Ebenso kann auch ein und dasselbe Gebet für mehrere Anliegen Verwendung finden. Dazu wird einfach der Titel geändert oder der Gebetstext geringfügig umformuliert.

In Anbetracht dieser komplexen Überlieferungslage muss die Erschließung der in den euchologia überlieferten kleinen Gebete als Quelle für das Alltagsleben und die Sozialgeschichte mit der Erfassung der Handschriften beginnen – eine Aufgabe, die nur durch systematisch aufbauende, langfristige Arbeit eines Forschungsteams bewältigt werden kann.

 

Die Projektarbeit

Der Handschriftencensus soll alle vorhandenen euchologia und andere relevante Handschriften, die Gebetstexte enthalten (wie z.B. nomokanones), auflisten. Die Grundlage dafür ist publiziertes Material, das durch Handschriftenstudien an Originalen oder durch die Heranziehung von Reproduktionen erweitert wird. Im Juli 2019 umfasste dieser Census mehr als 1000 Handschriften. Diese Liste wird kontinuierlich erweitert mit dem Ziel, eine geographische und chronologische Matrix zu schaffen, in die euchologion-Handschriften unbekannter Herkunft und unbekannten Datums sowie ihre Gebete eingeordnet werden können.

In absehbarer Zeit wird dieser Census die Basis für eine Datenbank der Gebetstexte bilden, die open access zur Verfügung gestellt Volltextsuchen ermöglichen soll. Die Gebetstexte werden darin mit den Handschriften, in denen sie überliefert sind, verlinkt. Jedes Gebet ist indentifiziert (1) durch Titel und incipit, sowie (2) durch Inhalt bzw. Anliegen. So wird es möglich sein, z.B. folgende Fragen zu beantworten: In welchen Regionen waren Gebete zum Weinbau oder zur Schifffahrt besonders verbreitet? Welche Gebete stehen in Bezug zu Gesundheit und kultischer Reinheit von Frauen? Wie formierten sich Laienbruderschaften in städtischem Umfeld? Wann traten zum ersten Mal Gebete zur Rekonsekration von Kirchen auf, in denen Kleriker der lateinischen Kirche Liturgie gefeiert hatten? Wie entwickeln sich die Gebete für die Wiederzulassung von Apostaten?

 

Arbeitsmethoden

Weitere Informationen zu den Arbeitsmethoden finden Sie hier.

Diese Angaben werden laufend aktualisiert.

 

Publikationen

Angaben zu projektspezifischen Publikationen der Projektmitarbeiter*innen finden Sie hier.

Videolinks zu Präsentationen des Projekts finden Sie hier.

 

Institutionen

Das Wiener Euchologia Projekt (VEP) ist Teil des Forschungsbereichs „Gesellschaft und Landschaft“ an derAbteilung Byzanzforschung des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

 

 

Internationale Kooperationen

PD Dr. Patrick Andrist, Ludwig-Maximilians Universität, München, Deutschland und Université de Fribourg, Schweiz

Univ.-Prof. Dr. Harald Buchinger, Universität Regensburg, Deutschland

Dr. Ágnes Mihálykó Tothne, Grant des Research Council of Norway (FRIPRO) (2020-2022)

Univ.-Prof. Dr. Martin Wallraff, Ludwig-Maximilians Universität, München, Deutschland

 

Finanzierung

Grundfinanzierung, Infrastruktur und Sicherung der Daten erfolgen durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften, ergänzt durch drittmittelfinanzierte Projekte. In den vergangenen Jahren waren dies:

FWF P28219-G25 Daily Life and Religion. Byzantine Prayer Books as Sources for Social History; Claudia Rapp (PI), Eirini Afentoulidou (01.10.2015-30.9.2017), Ilias Nesseris; Stand-Alone Project, 01.10.2015-31.05.2019, €394.390,50.

FWF T884-G25 An Analysis of Childbed Prayers in Byzantine Prayerbooks; Eirini Afentoulidou; Hertha-Firnberg Grant, 01.01.2018-31.12.2020; €228.720,00.

FWF P 34090Liturgy, Libraries and Learning. The Evidence from Byzantine Euchologia; Claudia Rapp (PI), Ilias Nesseris (1.1.2021-31.12.2024); Stand-Alone Project, €394.775,85.

 

Abgeschlossene Projekte

Daily Life and Religion. Byzantine Prayer Books as Sources for Social History; Claudia Rapp (PI), Eirini Afentoulidou (01.10.2015-30.9.2017), Ilias Nesseris; FWF P28219-G25 Stand-Alone Project, 01.10.2015-31.05.2019, €394.390,50.

Im Rahmen dieses Projektes fanden folgende Workshops statt:

In Church and at Home: Byzantine Religious Life, its Sources and their Study, 7-9 April 2016

Studying Byzantine Prayer Books: Manuscripts, Liturgy, and Society, 22-23 June 2018

 

Kontakt


Claudia Rapp (Projektleiterin; Universität Wien, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik – Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Byzanzforschung)

Eirini Afentoulidou (Projektmitarbeiterin)

Renate Burri (Projektmitarbeiterin)

Ilias Nesseris (Projektmitarbeiter: 1.10.2015-30.08.2022)

Giulia Rossetto (Projektmitarbeiterin)

Elisabeth Schiffer (Projektmitarbeiterin)

Daniel Galadza (Forschungspartner); Pontificio Istituto Orientale (https://orientale.it/it/)

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