Alttiroler und Europäer. Das Leben des Tiroler Beamten Dr. Erich Kneußl (1884–1968)

„Gesinnungsmäßig war und bin ich Alttiroler, also ein strenger Anhänger der Einheit Tirols, des deutschen und welschen Teils“, schreibt Erich Kneußl in seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen. Geprägt durch seine Herkunft entwickelte er sich im Laufe seiner Karriere in eine unerwartete Richtung. Im Zuge des Attentats vom 20. Juli 1944 – also vor 75 Jahren – wurde auch er verhaftet.

Erich Franz Joseph Kneußl kam am 30. März 1884 in Lienz in Tirol zur Welt. Er und seine jüngere Schwester Elfriede (geboren 1887) wuchsen als Kinder von Anton und Adeline (geborene Ofner) in einer typischen Tiroler Beamtenfamilie auf. Der Vater war im Laufe seines Lebens an verschiedenen Bezirkshauptmannschaften tätig; 1884 in Lienz, in der Folge in Innsbruck und ab 1891 als Bezirkshauptmann von Schwaz. Die Familie zog dadurch häufig um und auch Erich Kneußl selbst musste in seinem Berufsleben später örtlich flexibel sein. Der junge Kneußl besuchte die Volksschule in Schwaz und schon damals zeigte sich seine Leidenschaft für Heimat und Berge. Da der Vater hobbymäßig, aber schon sehr professionell, fotografierte, wurden viele Ausflugsziele in die nähere und weitere Umgebung festgehalten, wie „Partien“ an den Achensee und zum Kloster Georgenberg. Um ihm die beste Schulausbildung zu ermöglichen, wurde der Zwölfjährige von seinen Eltern ins Gymnasium der Benediktiner nach Meran geschickt. Dort knüpfte er lebenslange Freundschaften, engagierte sich für die Schulzeitung und das Theaterwesen, unternahm Ausflüge und Bergtouren und fühlte sich „daheim“. Als Maturageschenk erhielt er eine Reise nach Deutschland zu den dort lebenden Verwandten. Er traf seinen Cousin Paul, später General der bayerischen Infanterie, mit dem er gemeinsam in der Folgezeit intensive Ahnenforschung betrieb. Obwohl sich damals schon sein geschichtliches Interesse bemerkbar machte, trat Kneußl beruflich in die Fußstapfen seines Vaters und inskribierte sich im Jahr 1905 an der Universität Innsbruck für Rechtswissenschaften. Viel Zeit verbrachte er mit seiner zukünftigen Frau, Lydia Greussing, die er schon aus seiner Schwazer Jugendzeit kannte. Die beiden heirateten 1914 und bekamen drei Kinder: Werner (1915), Kurt (1918) und Edith (1926).

Nach erfolgreich beendetem Studium trat Kneußl in den Staatsdienst ein: er wurde 1909 für das Konzeptspraktikum in seine Geburtsstadt geschickt. Nach der Konzipientenzeit wurde er dort als Beamter übernommen. Wie es für Beamte in der Monarchie üblich war, wechselten die Dienstorte laufend, für Tiroler gehörte ein Wirken im südlichen, mehrheitlich italienischsprachigen Landesteil ebenfalls dazu. Kneußl beherrschte die italienische Sprache aufgrund seines Lebenslaufs und perfektionierte diese später. So wurde er zwischen 1912 und 1914 nach Cles, dann nach Tione und schließlich nach Mezzolombardo bestellt. Vor allem in Mezzolombardo verbrachte er – trotz des Kriegsausbruchs 1915 – glückliche Jahre. Beruflich verdiente er sich dort seine Sporen in der „Approvisionierung“ genannten Versorgung des Bezirks mit Nahrungsmitteln und Bedarfsgütern. Das von ihm ausgeklügelte System wurde weithin gelobt und brachte ihm 1917 das Kriegskreuz für Zivilverdienste III. Klasse ein. Wohl aufgrund seiner bemerkenswerten Arbeit wurde ihm mit November 1917 die Leitung der Bezirkshauptmannschaft Ampezzo, dem späteren Cortina d’Ampezzo, übergeben. Nach dem 1. Weltkrieg wurde Erich Kneußl Bezirkshauptmann von Lienz, der Kreis schloss sich. Er lebte mit seiner Familie bis 1931 im nunmehr  „Osttirol” genannten Landesteil und initiierte als innovativer Geist viele Projekte, wie den Bau des Bezirkskrankenhauses (eröffnet 1931). Er war Mitglied im Interessensauschuss des von Clemens Holzmeister entworfenen und mit Bildern von Albin Egger-Lienz ausgestatteten Bezirkskriegerdenkmals, welches 1925 eingeweiht wurde. Auch bemühte er sich um die Etablierung eines Gymnasiums in Lienz. Immer sehr heimat- und bergverbunden nahm sich die junge Familie zur Sommerfrische jeweils eine Ferienhütte am Iselsberg. Alleine, mit Freunden, der ganzen Familie oder nur mit seinen Söhnen unternahm er „Partien” Richtung Großglockner und in die Lienzer Dolomiten. Fest verwurzelt in seiner Beamtentätigkeit, mit dem Wunsch für die Bevölkerung zu arbeiten, wurde Kneußl schließlich 1927 als Kandidat des Tiroler Bauernbundes für die Nationalratswahl aufgestellt und gewählt.

Ein Tiroler in Wien

Während jener zwei Gesetzgebungsperioden, die er als Nationalratsabgeordneter in Wien tätig war, von 1927 bis 1930 und von 1930 bis zur 1933, kam Erich Kneußl in diversen Zimmern und Pensionen unter, so etwa in der Karolinengasse Nr. 4, in der Siebensterngasse, im Gasthaus Höller oder in der Pension Monopol. Anreisen konnte er von Lienz mit dem Nachtzug bequem montags, da die meisten Sitzungen erst am Dienstag stattfanden. Am Freitag trat er wieder die Heimreise an und übernahm in Osttirol Amtshandlungen. Zu günstigen Preisen konnte er in Wien als Beamter Theatervorstellungen besuchen und lernte viele Facetten der Hauptstadt kennen. Als Nationalratsabgeordneter beschäftigte sich Kneußl inhaltlich mit Themen wie dem angedachten Bau des Tauernkraftwerkes und dem Antiterrorgesetz von 1930. Zudem war er Mitglied in den Ausschüssen betreffend Verfassungsfragen, Finanz- und Budget, Verkehrswesen, Wohnung und Zollwesen. Seinen ersten Dringlichkeitsantrag stellte Kneußl im Juli 1927, um die vom Hagel stark betroffenen Bauern seines Heimatbezirkes zu unterstützen. Mit anderen Abgeordneten unternahm er Exkursionen, so z. B. auf Einladung des Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft in die Dachsteinhöhlen (1928). Zudem war sein Berufsleben geprägt von Empfängen und Bällen, Einladungen zum Tee oder zu offiziellen Abendessen.

Nach der Auflösung des Nationalrats 1933 wurde Kneußl 1934 in den Bundesrat berufen, wobei er weiterhin von Wien zu seiner Familie pendelte, die inzwischen von Lienz nach Hall in Tirol übersiedelt war. Jenes Haus in Hall, welches noch von seinem Vater Anfang des 20. Jahrhunderts erworben worden war, bildete mittlerweile das Zentrum seines privaten Lebens. Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 verlor der 1937 zum Hofrat ernannte Kneußl seine Stellung und wurde zwangspensioniert. Gesuche, wonach er eine Arbeit als Jurist, etwa als Steuerhelfer, anstrebte, wurden negativ beschieden. Einer Einrückung entging er aufgrund seines Alters, aber auch weil seine Söhne an der Front waren. In den folgenden Kriegsjahren betätigte er sich unter anderem im Denkmalschutz und war Obmann der Obstverwertungsgesellschaft Hall. Im Zuge dessen unternahm er auch Reisen innerhalb Deutschlands, vor allem um Obst, Obstbäume und Obstverwertungsanlagen zu erwerben. Seine freie Zeit nutzte er zum Bau und zur Ausgestaltung einer Berghütte im Voldertal sowie der Genealogie und Zusammenstellung eines Familienarchivs. Am 23. August 1944 wurde Kneußl aufgrund seiner politischen Einstellung im Lager in der Reichenau in Innsbruck interniert. Nach einem schweren Monat, in dem ihn seine wiederkehrenden, seit Jahren bestehenden Gallenprobleme quälten, wurde er am 28. September 1944 entlassen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte er seinen Beruf wieder ausüben.

Vom Tiroler zum Europäer

Seine erste Position als erfahrener Beamter bekleidete er von Juli 1945 bis Anfang 1946 mit dem Amt des Staatskommissärs für unmittelbare Bundesangelegenheiten. Im Anschluss wurde er bis August 1946 zum Landesamtsdirektor für Tirol bestellt. Damit lag die Landesverwaltung in seinen Händen. Ab 1947 leitete Kneußl die Außenstelle des Bundeskanzleramtes in Innsbruck. Im Wesentlichen war diese damit beauftragt, das Gruber-Degasperi-Abkommen vom 5. September 1946 umzusetzen. Dazu gehörten Belange der Autonomie und die Rückführung der Optanten. In dieser Funktion sollte Kneußl durch das Erreichen seines 65. Lebensjahres in Pension gehen, konnte jedoch seine Arbeit in der Außenstelle bis zu deren Schließung 1951 weiterführen.

Kneußl wurde als Alttiroler geboren. Er diente noch unter Kaiser Franz Joseph und Kaiser Karl. Aufgrund seiner Dienstorte vor allem im südlichen Tirol und dem Beherrschen der italienischen Sprache verstand sich Kneußl schon damals als europäisch. Durch seine Verwaltungstätigkeiten im Trentino lernte er italienische Nationalisten kennen, die er hart verurteilte. Ihre Idee von einem Italien bis zur Brennergrenze entsprach nicht seinen Vorstellungen: Bevor er mit der Umsetzung des Gruber-Degasperi-Abkommens beauftragt wurde, hoffte er wohl immer noch insgeheim, dass zumindest Südtirol zu Österreich zurückkäme. Trotzdem gestand er den italienischsprechenden Trentinern ihr „Recht, sich mit ihrem Muttervolk zu vereinigen“ zu – wohl auch, weil er den Alliierten mit ihrem Selbstbestimmungsrecht der Völker zustimmte.

Bei einer weiteren Analyse der geographischen „Wege“ Kneußls (beruflich und privat) ergibt sich ein großes Netz, das sich quer durch Europa spannt: Tirol, Wien, große Städte in Deutschland wie München, Dresden, aber auch Aufenthalte in Prag, immer wieder Reisen nach Südtirol und weiter in den Süden Italiens. Dieses Wegenetz im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen und beruflichen Tätigkeiten (erwähnenswert in diesem Zusammenhang seine Funktion in der österreichischen Liga der Vereinten Nationen nach der Pensionierung) vermitteln das Bild, dass Kneußl durch und durch Europäer war. Die heutige Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino sowie der freie Personenverkehr durch die Schengener Abkommen wäre vermutlich in seinem Sinne gewesen. Erich Kneußl verstarb am 17. September 1968 in Hall in Tirol.


Werke: Geschichte der Familie Kneußl aus dem Naviser Tal in Tirol (gemeinsam mit P. v. Kneußl), 1957.


Literatur: K. Seeber, Die Lebenserinnerungen des Tiroler Beamten Erich Kneußl in Mezzolombardo 1914-1917, 2015; K. Seeber, in: Osttiroler Heimatblätter, 2018, Nr. 11–12; K. Seeber, Katharina, in: Mitteilungen des Innsbrucker Verschönerungsvereins, 2019; Homepage des Parlaments der Republik Österreich, (Zugriff 27. 6. 2019); Lichtbild. Kulturschatz Historische Photographie (online, Zugriff: 27. 6. 2019).

(Katharina Seeber)


Hinweis: Eine Edition der Lebenserinnerungen Erich Kneußls, herausgegeben von Anselmo Vilardi (Fondazione Museo Storico del Trentino) und Katharina Seeber erscheint voraussichtlich Ende 2019.