G. Danek / S. HagelHomer-SingenWHB 37 (1995), 5-20 |
Aus diesem Grund sollen hier zunächst einige Bemerkungen zusammengestellt werden, die die praktische Frage betreffen: "Wie soll Altgriechisch ausgesprochen werden?" Angeknüpft sind daran Überlegungen zur Frage, wie spezielle Gegebenheiten des griechischen Verses realisiert wurden, und wie diese Aussprache in die musikalische Sprache des Epengesangs umgesetzt wurde. 1. Lautwerte Um dem Klang des homerischen Hexameters nahezukommen, müssen einige Modifikationen an der im deutschen Sprachraum gängigen Schulaussprache vorgenommen werden. Zunächst ist bei den Konsonanten auf die genaue Unterscheidung zwischen aspirierten (q, c, f), nicht-aspirierten harten (t, k, p) und weichen Verschlußlauten (d, g, b) zu achten. Erstere sind wie norddeutsche t, k, p mit hörbarem Hauch zu sprechen, zweitere wie süddeutsche t=d, k=g, p=b, und letztere empfiehlt es sich sehr weich, zur deutlicheren Unterscheidung eventuell beinahe schon zu weichen Reibelauten wie im Neugriechischen zu verschleifen. s ist immer stimmlos, z als stimmhaftes s mit d vorher oder nachher zu realisieren. Schwieriger mag die Gewöhnung an die rechte Aussprache der Vokale sein. Die Unterscheidung von langem offenen h, w und kurzem geschlossenen e, o ist zwar weitgehend bekannt. Jedoch auch a, i, u sind je nachdem lang oder kurz zu sprechen, auch wenn dies aus dem Schriftbild, und oft auch aus dem Vers, nicht hervorgeht (z. B. epi klisiaaV kai nhaV eisaaV, A 306). u erhält erst im späten klassischen Attisch den Lautwert von ü, es wird daher als u gesprochen. Die Diphthonge sind aus ihren Bestandteilen zusammengesetzt auszusprechen, also e-i (nicht ai), e-u, h-u (nicht oi), o-u (nicht u). Einen Sonderfall bilden die unechten Diphthonge ei und ou, die langes geschlossenes e bzw. o darstellen. Wer sich die Unterscheidung ersparen möchte, wird nicht viel fehlgehen, wenn er sämtliche ei und ou so liest (und nicht etwa alle als Diphthonge), da die echten Diphthonge offenbar bald weitgehend monophthongiert wurden, was die Ausdehnung der Schreibung ja erst ermöglichte. Die Langdiphthonge mit i (Iota subscriptum) sind ebenfalls vollständig zu sprechen: Das i wurde geschrieben, Langdiphthonge verteilen sich anders im Vers als die zugehörigen Langvokale. Nach dem Zeugnis der Inschriften wird man auch nicht fehlgehen, innerhalb des Verses auslautendes n gegebenenfalls an den Folgekonsonanten zu assimilieren, zumindest in engen Verbindungen, also vor Labialen zu m (em Fqihi), vor Gutturalen zu nasalem g (eg cersin). 2. Akzente Die deutsche, die englische und die meisten uns geläufigen Sprachen besitzen einen Druckakzent (stress-accent). Das bedeutet, daß die tontragende Silbe eines Worts durch eine Kombination von erhöhter Lautstärke, Längung des Vokals und Erhöhung der Frequenz (= Tonhöhe) markiert ist, wobei der Anteil dieser drei Komponenten je nach Sprache, aber auch je nach Sprechsituation, etc., unterschiedlich hoch sein kann. Das Altgriechische gehörte hingegen zu jener Gruppe von Sprachen, die einen sogenannten musikalischen oder melodischen Akzent (pitch-accent) haben, was bedeutet, daß der Sitz des Wortakzents ausschließlich durch Anstieg und Abfall der Tonhöhe realisiert wird. Im Griechischen wurde also die akzenttragende Silbe nicht wie im Deutschen gegenüber ihrer Umgebung automatisch gelängt, sie wurde aber auch nicht mit stärkerem Druck, also lauter ausgesprochen, sondern sie trug als einziges Kennzeichen, daß sie den Melodiegipfel ihres Wortes bildete. Das ist wichtig für das Verständnis griechischer Metrik: Die Wortakzente beeinflussen den Rhythmus eines Verses nicht, da sie kein Element enthalten, das nach unserer Vorstellung ‚taktbildend' wirken könnte; sie implizieren keine, wenn auch noch so unbewußte Längung eines ‚betonten Taktteils', sie heben einen solchen aber auch nicht durch größere Lautstärke hervor. Wortakzent und quantitierender Rhythmus sind also voneinander völlig unabhängig. Wie hat dieser Wortakzent nun geklungen? Beschrieben ist dies schon beim Aristoteles-Schüler Aristoxenos, illustrieren läßt es sich durch das Studium von lebenden Sprachen mit pitch-accent. Eine zusätzliche wichtige Quelle für die Erschließung des Klangs der griechischen Sprache stellen die griechischen Musikfragmente dar, in denen — zumindest in einem Teilbereich — der Wortakzent für die Melodiebildung berücksichtigt ist. Aus diesen Informationen, kombiniert mit sprachtheoretischen Überlegungen, haben zuletzt Devine und Stephens ein überzeugendes Bild von der Klang- und Funktionsweise des griechischen Akzents entworfen. Der Ton der Sprachmelodie steigt vor der akzenttragenden Silbe an, erreicht auf dieser (bzw. dem Silbenteil / More) seinen höchsten Punkt und sinkt dann innerhalb des Wortes bis zum Wortende ab. Charakteristisch ist dabei, daß der Anstieg zum Tongipfel flacher, der Abfall danach steiler ist, so daß der Abfall auf der dem Akzent folgenden Silbe (bzw. More) für die Realisierung des Wortakzents überhaupt das wichtigste Merkmal darstellt .
Unproblematisch ist die Verwirklichung dieses Prinzips, wenn die akzenttragende Silbe im Wortinneren
steht: Die Stimme kann hier innerhalb der Worteinheit bis zur Akzentsilbe hinauf, und danach wieder hinuntergleiten.
Das gilt auch bei der Erfassung von Wortbildern, d. h. Wörtern unter Einschluß der an ihnen haftenden
Prä- und Postpositiva (Präpositionen, Artikeln, Konjunktionen…; Enklitika, diverse Partikeln); dort bildet
das Wortbild die Intonationseinheit, innerhalb derer ein Melodiegipfel verwirklicht wird, und der Melodieabfall innerhalb
des Wortbildes ist kennzeichnend. Für diese Konstellationen ist charakteristisch, daß die abfallende Melodielinie
dominiert: Die Intonationseinheit dauert so lange an, wie die Melodie abfällt; wenn diese wieder zu steigen beginnt, ist
das ein Signal für den Beginn der nächsten Intonationseinheit. Das funktioniert bei Akut im Wort(bild)inneren, wenn
die Melodie auf der folgenden Silbe abfallen kann; bei Zirkumflex auch auf der letzten Silbe, da dort die Melodie ja bereits auf
der zweiten More der langen Silbe wieder abfällt. Gestört wird dieser Effekt jedoch durch den Gravis, der einen
Hochton auf der letzten Silbe eines Worts innerhalb des Satzzusammenhangs markiert: Hier kann die Stimme nach dem Tongipfel
des Wort(bild)s nicht innerhalb der Wort(bild)einheit abfallen, die Abfolge von separaten Intonationseinheiten ist gestört.
Über das Wesen des Gravis wurde viel diskutiert, die Palette der Meinungen reicht von der Auffassung, daß der Gravis
vollen Hochton markiere, bis zu dem Ansatz, daß er einen Tiefton bezeichne, wobei das betreffende Wort gar keinen
Melodiegipfel besitze. Als Kompromiß wurde vorgebracht, der Gravis bezeichne einen verminderten Vollakzent, bedeute also,
daß die Stimme ansteige und wieder absinke wie bei einem ‚normalem' Akzent, jedoch nur in reduziertem Ausmaß.
Nachdem schon früher beobachtet wurde, daß hier die melodische Behandlung des Gravis in den Musikfragmenten
Aufschluß geben kann, haben jetzt Devine und Stephens aufgrund einer neuen systematischen Betrachtung des Materials
eine plausible Theorie des Gravis vorgelegt: Die Melodie steigt innerhalb des Worts bis zum Gravis an, jedoch schwächer
als in vergleichbaren Wörtern mit Akut oder Zirkumflex, und sinkt danach nicht wieder kräftig ab, sondern
verzeichnet bis zum nächstfolgenden ‚Vollakzent' einen weiteren Anstieg. Der Gravis bezeichnet also einerseits den
Tongipfel seines Wortes, leitet andrerseits die Intonationskurve zum nachfolgenden Wort weiter, sodaß das gravistragende
Wort mit dem folgenden eine einzige Intonationseinheit bildet; diese wird damit automatisch länger und hat eine längere
Anstiegsphase als kürzere Einheiten (Diagramm 1). Das bedeutet, daß durch den Gravis größere
Intonationsbögen erreicht werden, die sich nicht nur auf ein einzelnes Wort oder Wortbild beschränken.
Damit ist bereits ein wichtiger Schritt zu einem Verständnis des griechischen Satzakzents vollzogen, über den die
Forschung bisher wenig sagen konnte. Weitere Fortschritte können hier allerdings am ehesten über die Erforschung
der Versmelodie des Hexameters erzielt werden; dafür sind zunächst einige Bemerkungen zum Wesen des griechischen
Verses nötig. In neuerer Zeit ist es üblich, in Verseinschnitten (Zäsuren) Pausen zu machen, vor allem wenn sie mit Sinneinschnitten zusammenfallen, an den Versgrenzen dagegen ohne jede Unterbrechung weiterzusprechen, wenn dies auch in Prosa syntaktisch angezeigt wäre (Enjambement). Für erstere Praxis existieren auch antike Hinweise, die allerdings erst der Zeit nach dem Niedergang des klassischen pitch-accent entstammen. Beides kann jedoch im Hexameter nicht die ursprüngliche Praxis gewesen sein. Zunächst beruht die Wahrnehmung des Verses, der ja keine Taktverstärkung kannte, allein auf der Abfolge langer und kurzer Silben, also auf der regelmäßigen Einteilung von Zeit. Pausen innerhalb eines Verses müssen diese Einteilung zumindest verwirren, laufen also schon der Grundlage antiker Metrik zuwider. Jedoch würden Pausen auch aus anderen Gründen den Rhythmus zerstören. Die Messung der Silben für den Vers beruht zum guten Teil auf Phänomenen der natürlichen Sprache, die nur in zusammenhängender Lautung auftreten können. Die Aufteilung der Silben erfolgt nämlich nicht nach Einzelwörtern, sondern über die Wortgrenzen hinweg. Im Einzelwort bewirkt ein auslautender Konsonant, daß die Silbe geschlossen ist und daher auch lang, wenn sie einen Kurzvokal enthält. Im Satzverband bleibt diese Einteilung vor anlautendem Konsonanten bestehen ("Positionslänge", nach dem unglücklichen griechischen qesei). Mit einem anlautendem Vokal dagegen bildet der auslautende Konsonant eine neue Silbe, die Silbengrenze wird zurückgesetzt, und die erste Silbe wird kurz. Ähnlich funktioniert die Kürzung eines auslautenden Langvokals vor Vokal (correptio). Bei der Messung eines auslautenden Kurzvokals vor folgender Doppelkonsonanz als Länge tritt genau das Gegenteil ein: Die Silbengrenze wird nach vorne in den Anlaut des nächsten Wortes verschoben. Dieses System, das in natürlicher Sprache üblicherweise nur in engeren syntaktischen Strukturen zur Anwendung kommt, erscheint in der griechischen Metrik generell auf den ganzen Vers ausgedehnt. Das kann nur dann funktionieren, wenn innerhalb des Verses keine Pausen auftreten, die die Möglichkeit der Versetzung von Silbengrenzen über Wortgrenzen hinweg natürlich aufheben müßten. Zum Beispiel stehtin der Ilias in einem Drittel aller Zäsuren kata ton triton trocaion ein Wort mit konsonantischem Schluß (32.51%), bei daktylischer bukolischer Diärese sogar fast in der Hälfte (45.84%). Eine Pause nach diesen Hauptzäsuren würde diese Silbenstruktur unweigerlich lang machen (den Eindruck einer verbotenen Mittendiärese erwecken bzw. den Daktylus zum Kretikus machen), ganz abgesehen von der weiteren Verzögerung durch die Pause selbst. Aus metrischen Gründen muß daher auf ein Aussetzen der Stimme innerhalb des Verses ganz verzichtet werden. Der Ausdruck der Zäsur bleibt vielleicht winzigen rhythmischen Unregelmäßigkeiten vorbehalten, etwa einer feinen Längung der letzten Silbe eines Kolons, die der Hörer empfindet, ohne daß sie den Rhythmus stört, ähnlich der Gestaltung musikalischer Linien beim Musizieren. Dazu kommt aber vor allem noch die später zu besprechende satzmelodische Gestaltung. Da der Vortragende innerhalb des Verses also nicht Luft holen kann, irgendwann aber doch atmen muß, ergibt sich die Notwendigkeit, nach jedem Vers eine Pause zu machen. Zwar wäre bei gesprochenem — kaum bei gesungenem — Vortrag das Hervorbringen zweier Verse möglich, ohne Atem zu schöpfen, aber bei Homer sind auch mehr als zwei Enjambements hintereinander durchaus üblich. Zudem wäre es eigentlich recht unsinnig, wenn die epische Tradition zwar auf einem stichischen Vers als strenger Einheit beruht, der Vortrag aber wie in neuerer Zeit darauf bedacht wäre, diesen Vers möglichst zu verdunkeln. Daran knüpft sich auch die Frage nach Pathos im ursprünglichen aödischen Vortrag des Epos, das, anders als für den späteren rhapsodischen, wohl abzulehnen ist. Im Gegenteil dürfte erst die strenge und scheinbar eintönige Regelmäßigkeit der Form die zeitlich langdauernde Produktion des mündlichen Sängers ermöglichen, und letztlich auch die Rezeption erleichtern, die sich unabgelenkt nur mit Inhalt und Erzählstruktur des Dargebotenen befassen muß. Dazu kommen wieder metrische Beobachtungen. Irregularitäten innerhalb des Verses werden streng vermieden. So trifft in der Ilias etwa in der Penthemimeres ein Kurzvokal mit folgendem Vokal (Hiat) nur in sieben Fällen aufeinander (0.09%), wovon nur drei nicht wenigstens durch altes Digamma gemildert werden — übrigens ein weiterer Hinweis, daß hier keine Pause gesprochen wurde. Wäre an der Versgrenze unmittelbar weitergesprochen worden, müßte man auch hier zumindest bei Enjambements eine Vermeidung des Hiats erwarten. Im Gegensatz dazu tritt ein solcher Hiat über die Versgrenze durchschnittlich an jedem zehnten Vers der Ilias auf (9.69%). Zwar ist der Anteil in Enjambement um weniges geringer (8.95%), was aber darauf zurückzuführen ist, daß Sätze öfter mit Kurzvokalen beginnen als Verse, die einen begonnenen Satz fortsetzen. Es ist also von der Struktur der Versgrenzen selbst sehr wahrscheinlich, daß eine Sprechpause hier die Regel war, und der Vortrag tatsächlich ebenso stichisch wie sein Metrum. 4. Melodiebögen
Die Tonhöhe einer sprachlichen Äußerung wird in allen Sprachen nicht nur vom Wortakzent,
sondern auch von der Satzmelodie beeinflußt. Üblich ist in normalen Aussagesätzen ein gleitender Abfall des Bereiches,
innerhalb dessen sich die Akzentkurven bewegen, über den Satz hinweg. Daß dies für die griechische Sprache ebenfalls gilt,
ist anhand der Musikfragmente gezeigt worden. Es zeigt sich dabei, daß dieser allgemeine Abwärtstrend durch syntaktische
Einschnitte unterbrochen werden kann, wobei mit dem Neueinsatz nach einem solchen Einschnitt wieder mit einem höheren
Tonbereich begonnen wird. Für das Griechische typisch ist jene andere oben bereits beschriebene Erscheinung, daß innerhalb
des Satzes Oxytona (also Wörter mit Gravis) dem Abwärtstrend entgegenstehen. Nach der betonten Silbe, an der der Ton ansteigt,
kann der Ton nicht mehr abfallen und geht direkt in den Anstieg über, der zum Akzent des nächsten Wortbildes führt.
Durch diesen doppelten Anstieg steht also dieser nicht tiefer als der Akzent, der dem Gravis zuvorgeht, und das Abfallen der Tonhöhe
ist für einen Teil des Satzes umgekehrt. Diese Gliederung des epischen Vortrags durch die Sprachmelodie läßt sich mit statistischen Methoden tatsächlich nachweisen. Da nämlich, wie gesagt, Oxytona an sich ein Ansteigen der Stimme erzwingen, ist zu erwarten, daß diese dort vermieden werden, wo ein Absinken der Tonhöhe wünschenswert ist, also vor Zäsuren und am Versschluß. Das ist nun, auch nachdem mögliche Fehlerquellen sorgfältig ausgeschlossen sind, tatsächlich zu beobachten: Die Oxytona stehen vornehmlich zu Beginn metrischer Kola, selten in Zäsurstellen und nehmen im Regelfall gegen Ende des Verses zunehmend ab. Die daraus sich ergebenden steigenden Tendenzen zu Vers- oder Kolonbeginn verknüpfen sich mit den fallenden am Versschluß oder vor Zäsur offenbar zu Melodiebögen. Aufgrund dieser Überlegungen soll in Diagramm 2 eine Annäherung an den Tonverlauf zweier formelhafter Verse versucht werden, wobei keine getreue Darstellung der Verhältnisse angestrebt wurde. Weitere Aufschlüsse erhält man bei der Untersuchung der Verteilung der Oxytona in nach verschiedenen Kriterien gefilterten Versen, etwa in allen Versen, die Interpunktion an einer bestimmten Stelle haben, oder Enjambement nach Interpunktion in bukolischer Diärese. Die wichtigsten Ergebnisse seien hier kurz aufgezählt.
Wahrscheinlich ist auch, daß im Rahmen der skizzierten Versmelodie Gipfelpunkte der Melodien eher auf jene Wörter fallen, die das "Rhema" des Satzes tragen. 5. Hat Homer gesungen? Diese Frage läßt sich anhand unserer Quellen nicht mit absoluter Sicherheit entscheiden. Die Tätigkeit der Epenerzähler, allerdings jener der Heroenzeit (Demodokos, Phemios), ist in der Odyssee unmißverständlich als improvisierender Gesang mit Phorminxbegleitung beschrieben. Die Erzähler selbst (Ilias, Odyssee, Hesiod, Homerische Hymnen) nennen ihre eigene Tätigkeit aeidein, ihre Produkte, bzw, die Form, in der die epischen Stoffe dauerhaft überliefert werden, aoidh (z. B. Od. 24, 196-202). Die Texte der Epen liefern nirgends einen Hinweis darauf, daß sie nicht gesungen, sondern nur gesprochen werden; nur im Sinne von Gesang verständlich ist etwa die Selbstdefinition des Sängers im Apollonhymnus (165-78), die unmittelbar neben die Beschreibung des Singens des Mädchenchors gestellt ist. Auf der anderen Seite ist der Lorbeerstab, den Hesiod anläßlich seiner ‚Musenweihe' erhält (Theog. 30-4), in der antiken Tradition schon früh als rabdoV aufgefaßt, wie ihn der Rhapsode wohl spätestens ab dem 6. Jh. hält. Zu diesem Zeitpunkt hat der Stab die Phorminx ersetzt, der Rhapsode singt nicht mehr, sondern rezitiert. Auf der anderen Seite enthält die antike Überlieferung Informationen über frühe Musiker, die die Epentexte zu eigener Musik singen, also dem fixierten Text eine reichere musikalische Untermalung zukommen lassen. Aus all dem zeichnet sich folgende historische Linie ab: Am Anfang steht der improvisierende Epengesang zur Phorminx, wobei nach den zahlreichen Parallelen in epischen Traditionen anderer Völker davon ausgegangen werden kann, daß sowohl Wortlaut als auch Melodie mehr oder weniger ‚improvisiert' werden, d. h. nicht in fixierter Form vorgegeben und nur reproduziert, sondern in einem schöpferischen Akt jeweils neu hervorgebracht wird. Diese Tradition bricht an einem bestimmten Punkt ab, und wir können dann zwei unterschiedliche Fortsetzungslinien erkennen, von denen allerings jeweils nur der Endzustand greifbar ist: einerseits das reproduzierende Rezitieren fixierter Texte ohne musikalische Komponente (Rhapsoden), andrerseits das ‚Vertonen' der ebenfalls fixierten Texte zu einer ‚neuen' Musik. Diese Linie führt wohl dann zu einer völlig neuen Form des narrativ-musikalischen Erzählens, wie es bei Stesichoros im 6. Jh. kenntlich wird: Der Sänger-Dichter produziert einen selbständigen Text, wenn auch angelehnt an epische ‚Vorlagen', aber in einer rhythmischen Form, die einer stärkeren musikalischen Ausgestaltung eher angemessen ist als der epische Hexameter.
An welchem Punkt innerhalb dieser Entwicklung steht nun Homer, 6. Stimmung der Phorminx Die Phorminx als jenes Instrument, mit dem der Epensänger seinen Vortrag begleitet, ist in Ilias und Odyssee bestens bezeugt. Der archäologische Befund und Angaben aus dem musikhistorischen Schrifttum der Griechen lassen darauf schließen, daß dieses Instrument (im Gegensatz zur ‚späteren', siebensaitigen Lyra) nur vier Saiten hatte, also nur vier Töne von sich geben konnte. Da die Griechen grundsätzlich keine polyphone Musikbegleitung kannten, kann auch der homerische Aoide nur auf einer reduzierten Tonskala von vier Tönen gesungen haben. Überlegungen über die Stimmung der vier Saiten können sich von vornherein nur auf die relative Stimmung, also auf das Wesen der Tonskala beziehen, nicht auf die absolute Stimmung, da diese wohl jeder Sänger für seine eigene Tonlage modifizierte. Einen Versuch, die relative Tonskala zu ermitteln, hat Martin West unternommen, der unter Berufung auf eine als ‚alt' überlieferte ionische Tonskala e f a c' d' und der ebenfalls überlieferten Benennung der Töne (=Saiten) zu einer für den ionischen Epengesang besonders charakteristischen Skala e f a d' gelangt. Diese Skala hat den Vorzug, daß sie innerhalb des griechischen Musiksystems sichtlich besonders systemkonform ist (wir haben es mit zwei übereinanderliegenden Quarten zu tun, die im späteren Tetrachordsystem eine so große Rolle spielen werden). Sie stellt zwar zweifellos nicht die einzige Möglichkeit der Rekonstruktion dar, bewährt sich aber in der Praxis, da sie einen zur musikalischen Umsetzung gesprochener Sprache ausreichend großen Frequenzbereich umfaßt. 7. Implementation der Melodie Die Übertragung der Sprachmelodie mit ihren gleitenden Übergängen ohne fixierte Tonhöhen in echten Gesang erfordert natürlich den Verzicht auf manche Feinheiten der Tonführung zu Gunsten einer starken Stilisierung. Diese Stilisierung ist für das Wesen musikalischer Sprache an sich charakteristisch, und etliches von dem hier Postulierten ist für die Melodieführung griechischer Musik in den Musikfragmenten bestens bezeugt. Trotz der Beschränkung des verfügbaren Tonmaterials können die meisten Grundstrukturen der Sprache aber mit den vier Saiten der Phorminx verwirklicht werden. Die Stilisierung bringt es mit sich, daß in der Sprache nur sanft steigende oder fallende Linien in Musik auf einem gleichbleibenden Ton gesungen werden. Das ermöglicht insbesonders eine gleichmäßige Abwärtsbewegung gegen Ende des Verses, indem alle Silben eines Wortes bis einschließlich der akzentuierten auf dem Ton der letzten Silbe des vorhergehenden Wortes oder sogar einen Ton tiefer stehen. Der Akzent wird also immer durch das Fallen des Tones nach der akzentuierten Silbe angezeigt, nicht jedoch unbedingt durch Ansteigen auf ihr.
Ansonsten können die für die Sprech- und Versmelodie gewonnen Erkenntnisse weitgehend
problemlos angewandt werden. Der Gravis selbst wird etwa auf einer höheren Tonstufe stehen als die vorhergehenden Silben
des selben Wortes, aber nicht höher als die Silben des folgenden, zumindest nicht als dessen Akzent. Den Gravis selbst nicht
durch Erhöhung auszudrücken empfiehlt sich im Zusammenhang der Versmelodie öfters bei Präpositionen
und anderen Präpositiven, besonders, wenn sie in Folge auftreten, manchmal auch, entsprechend den Musikfragmenten, bei
zweisilbigen, vor allem pyrrhichischen Wörtern. Diagramm 3 zeigt eine mögliche Übertragung des Sprechtones auf vier distinkte Tonstufen unter Anwendung der aufgezeigten Regeln. Natürlich bleiben viele Fragen offen. Eine der für das Klangbild wichtigsten ist die Behandlung von Oxytona am Versschluß. Realisiert man diese als Hochton, ergibt sich durch die abschließende Umkehrung des Melodieverlaufs eine markante Klausel, die zur Hervorhebung von Inhalten geeignet erscheint. Das würde zu vielen der betreffenden Wörter gut passen, gerade wo es sich um Eigen- oder Volksnamen (alle Namen auf -euV mit den Haupthelden und dem Hauptgott der homerischen Gedichte; Acaioi) oder, wo diese selbst nicht oxyton sind, um entsprechende Formeln mit akzentuiertem Schluß handelt (AlexandroV qeoeidhV etc.; TrweV agauoi; vgl. auch IlioV irh). Auch stimmt dazu die Beobachtung, daß in solchen Versen mit Hochton am Ende, der keine Enjambementfunktion hat, in der zweiten Vershälfte sonst deutlich weniger Oxytona stehen als anderswo, was gewährleisten würde, daß die Melodie bereits früher den Tiefpunkt erreicht, um auf der letzten Silbe nochmals ansteigen zu können. Andererseits ist auch denkbar, daß in gesprochener Sprache Hochton vor Pause im Frequenzabfall am Ende eines Satzes unterging (in einer Simulation der Frequenzkurve läßt sich dieser Effekt mit bestimmten Parametern nachvollziehen), was sich melodisch am ehesten als Verbleiben auf dem (untersten) Ton ausdrücken ließe. Auch das wäre mit der genannten statistischen Beobachtung vereinbar. In der Rekonstruktion mag eine Synthese beider Konzepte am sinnvollsten sein, wobei markierte Oxytona eine steigende Klausel erhalten, die Akzentuierung anderer Wörter jedoch (z. B. oxytone Partizipien) der Satzmelodie untergeordnet wird. Im einzelnen bleibt jedem Interpreten, ob er sich der Wort- und Satzmelodie der griechischen Sprache anzunähern versucht oder dem musikalischen Vortrag, ein gutes Maß an Freiheit der Interpretation. Wir hoffen aber, denjenigen, die dem Klang griechischer Verse näher kommen wollen, als die Schulaussprache und unser Druckakzent gestatten, mit diesen Ausführungen gedient zu haben. Top of the page Back
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