Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Christine Heusch, Die Achilles-Ethopoiie des Codex Salmasianus. Untersuchungen zu einer spätlateinischen Versdeklamation. Paderborn- München-Wien-Zürich: Schöningh 1997. 238 S. (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums. Neue Folge, 1. Reihe: Monographien. 12.) ISBN 3-506-79062-5

In der vorliegenden Untersuchung, einer leicht geänderten Fassung ihrer 1996 abgeschlossenen Dissertation, nennt H. in der Einleitung (11f.) als Ziel eine ausführliche Untersuchung des bisher kaum beachteten Gedichts AL 189 SB, einer versifizierten Deklamation eines anonymen spätantiken Autors in 89 Hexametern: Achill entscheidet sich in Skyros gegen sein bisheriges verweichlichtes Leben, d. h. gegen seine junge Braut und sein eben geborenes Kind, und für die Teilnahme am Trojanischen Krieg, der allerdings Achills Leben fordern wird. Der einführende Teil der Arbeit (13 – 84) geht den Fragen nach dem literarischen Genus, den Bezugstexten, Aufbau, Sprache, Stil und Metrik, der Datierung, der literarischen Tradition und der Intention nach. Darauf folgen die Neuedition, der eine Übersetzung beigegeben ist (85 – 97), und ein sehr umfangreicher Kommentar, der Textkritik, Sprache, Stil, quellenanalytische und werkimmanente Beobachtungen umfaßt (98 – 204). Das Buch beenden ein Literaturverzeichnis und mehrere Indices (205 – 238). Vor allem der Kommentar ist mit großer Sorgfalt und Genauigkeit gestaltet, könnte allerdings, besonders was das Ausschreiben von Belegstellen anbelangt, bisweilen knapper und damit lesbarer sein. In der insgesamt gelungenen Übersetzung läßt sich über einige Nuancen diskutieren (in 21 dürfte praefixa casside eher als Abl. instr. als lokal aufzufassen sein; in 89 wurde nicht erkannt, daß die beiden Verben aus dem Bereich des Geldwesens stammen); die von H. gewählte Textgestaltung wird im Kommentar an den entsprechenden Stellen jeweils gründlich diskutiert.
Problematisch allerdings und nicht wirklich durchargumentiert sind zwei Hauptpunkte im einführenden Teil, die Datierung und die literarische Intention. H. tritt für die Abfassung des Textes in Karthago im Umkreis – oder besser: in der Nachfolge – des Dracontius ein, doch ihre einzigen Beweise, einige Parallelen zu Claudian und Dracontius, sind nicht wirklich schlagend (Sprache, Metrik und Prosodie lassen keine Rückschlüsse auf die Abfassungszeit zu): Die meisten der von H. angeführten Junkturen, die Claudian und das Gedicht der AL gemeinsam haben, sind nämlich schon in der klassischen Dichtung nachweisbar. Als einziger möglicher Bezug bleiben Claud. 7, 60 – 62 (non ocius hausit Achilles / semiferi praecepta senis, seu cuspidis artes / sive lyrae cantus medicas seu diceret herbas) bzw. carm. min. 18, 9 (praecepta magistri als Klausel, aber in ganz anderem Kontext) und AL 189, 13 –16 (nam cum respicio quo sim de semine cretus / semiferique animo recolo praecepta magistri, / nec puerum decuit muliebri pectora peplo / induere et teneram gressu simulare puellam), doch an dieser Stelle wurde die Frage der Priorität nicht erörtert: Wenn man tatsächlich ein direktes Zitat aus Claudian supponiert und nicht annehmen will, der Dichter habe selbständig aus Statius, Achill. 1, 868 (tu semiferi Chironis alumnus) und der ab Manilius 2, 763 nachweisbaren Klausel praecepta magistri kombiniert, könnte möglicherweise für eine Priorität Claudians sprechen, daß dort die Künste, die Achill von Chiron lernt, detailliert angeführt werden, in dem Gedicht der AL dagegen als bekannt vorausgesetzt sind. Ähnliches gilt für Dracontius, mit dem der Dichter sprachlich bloß die allerdings auch sonst belegbare Klausel lege perenni und den konsonantisch flektierenden Dativ Atridi gemeinsam hat: Zwar könnte die Tatsache, daß die Romulea vergleichbare versifizierte Deklamationen enthalten, tatsächlich auf den Umkreis des Dracontius deuten, doch hätte auch hier das Problem der Priorität erörtert werden müssen.
Weitgehend unreflektiert bleibt aber auch die Frage nach der literarischen Intention des Textes: Für H. handelt es sich um ein paganes Gedicht, in dem Achill – in Analogie zu Herakles – als stoisches Exempel für wahre virtus präsentiert werden soll. Die Autorin hinterfragt ihre These allerdings in keiner Weise, obwohl sie den Verfasser des Gedichts im Umkreis des christlichen Dichters Dracontius ansiedelt: Gerade unter einer solchen Voraussetzung wäre es aber denkbar, daß Achills Entscheidung für den Krieg als fragwürdig hingestellt werden soll. Immerhin dürften die Verse 30 – 36 und 72 – 77, in denen Achill selbstbewußt ankündigt, er werde sich durch seinen Entschluß zum Kampf – sei es durch einen Sieg oder durch einen heldenhaften Tod – ewige (irdische) gloria erwerben und auf diese Weise Fortuna und den (leiblichen) Tod überwinden, in die eben angedeutete Richtung weisen. Diese Gedanken scheinen ja geradezu eine Pervertierung der Ideale christlicher Märtyrer zu sein, die für ewigen Lohn im Jenseits in den Tod gehen. Die sprachliche Formulierung könnte das unterstützen: Die Verse 30 (praesumit certam virtus sibi conscia palmam) und 35f. (fortibus una viris parilisque per omnia sors est, / aut palmae aut leti pugnando adquirere laudem) weisen nämlich auffälligere Parallelen zu Erörterungen christlicher Autoren über den Märtyrertod auf (vgl. z. B. Victricius Rotomagensis, de laud. sanct. 3: in disparili sorte parilis palma virtutis est) als die von H. zitierte Stelle Claud., carm. min. app. 2, 63 (parili … sorte); zudem begegnet die Klausel lege perenni (76), wie schon H. bemerkte, mehrfach bei Dracontius, und zwar vornehmlich in christlichem Kontext! Sollte sich die hier geäußerte Vermutung eines christlichen Hintergrundes der Achilles-Ethopoiie mit Hilfe einer gründlichen Untersuchung bestätigen, würde Achill am Ende des Gedichts mit dem Entscheid gegen Venus und für Mars zwar die vita activa der vita voluptuosa vorziehen, wäre aber von dem christlichen Ideal der vita contemplativa noch weit entfernt. Die andere Möglichkeit, daß sich nämlich ein heidnischer Dichter bewußt christliches Sprach- und Gedankengut aneignete, um auf die christlichen Märtyrer mit einem stoischen Gegenbeispiel für virtus zu antworten, ist schon allein deshalb wenig wahrscheinlich, weil in werkimmanenter Interpretation Achills Argumente auch aus paganer Sicht fragwürdig erscheinen: In den letzten Versen (78 – 89) erfaßt ihn Kampfeswut (animus … saeviat 78), er empfindet die Liebe zu Frau und Kind und damit die moralische Verpflichtung ihnen gegenüber als Hindernis (79) und ist von seinem glorreichen Sieg überzeugt (80f.); der Leser aber weiß, daß ihn vor Troja der Tod ereilen wird.
Zwar ist es bedauerlich, daß H. diesen Aspekten in ihrer Untersuchung keinen Raum widmete; trotzdem wird man das Buch aufgrund seiner reichen Materialsammlung mit Gewinn für das Studium spätantiker Dichtung heranziehen.
Christine Ratkowitsch
 

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